Nach „Der Himmel von Hollywood“ widmete sich der deutsche Filmemacher Sönke Wortmann („Kleine Haie“) im Jahre 2003 mit der Drama/Sportfilm-Melange „Das Wunder von Bern“ einem Mammutprojekt: Zwischen dem Vizeweltmeistertitel der DFB-Mannschaft Rudi Völlers und dessen Vorrundenaus bei der EM zwei Jahre später wollte er die Ereignisse des als „Das Wunder von Bern“ in die Geschichte eingegangenen ersten Fußballweltmeisterschaftstitels der deutschen Herrennationalmannschaft im Spielfilmformat neu aufleben lassen und darüber hinaus einiges über die damalige Nachkriegszeit erzählen:
Der Essener Bergmann Richard Lubanski („Der Felsen“) kehrt 1954 nach langen Jahren sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Hause und zurück und findet eine Familie vor, die ohne ihn auszukommen gelernt hat. Sein Sohn Bruno (Mirko Lang, „Engel + Joe“), ein junger Erwachsener, liebäugelt mit sozialistischen Idealen und hinterfragt die NS-Zeit kritisch. Seine Tochter Ingrid (Birthe Wolter, „Flashback – Mörderische Ferien“) zeigt sich von den britischen Besatzungssoldaten fasziniert. Und dann ist da noch der elfjährige Matthias (Lohmeyers echter Sohn Louis Klamroth, „Der Mistkerl“), von dem Richard gar nichts wusste: Er kam in seiner Abwesenheit zur Welt. Dieser hat sich RW-Essen- und Nationalspieler Helmut Rahn (Sascha Göpel, „Vollgas – Gebremst wird später“) als Idol gesucht und blickt zu ihm auf wie zu einem Vater, den er nie hatte. Christa (Johanna Gastdorf, „Küß mich!“), seine Frau und Mutter der Kinder, hat eine Gastwirtschaft aufgebaut, die genug zum Leben abwirft, und bringt die Familie durch. Sich mit dieser Situation zu arrangieren, fällt Richard sehr schwer. Er versucht es mit Autorität, womit er seine Kinder jedoch nicht erreicht. Parallel beginnt die Fußball-WM in Ungarn. Unter Trainer Sepp Herberger (Peter Franke, „Im Club der Millionäre“) ist Rahn kein Stammspieler und wird zunächst lediglich im Vorrundenspiel gegen den Gastgeber eingesetzt, das verloren geht. Doch je weiter die Mannschaft sich im Turnier durchsetzt, desto größer wird das Medieninteresse und desto mehr Deutsche faszinieren sich für sie. Nach der Vorrunde zählt Rahn fest zur Startelf. Matthias jedoch bricht schließlich mit seinem Vater und läuft von zu Hause weg…
Wortmann, der zusammen mit Rochus Hahn auch das Drehbuch verfasste, vereint in seinem Film drei Handlungsstränge: neben dem um die Fußball-WM den um die fiktionale Familie Lubanski sowie den um die jungvermählten Ackermanns. Paul Ackermann (Lucas Gregorowicz, „Lammbock – Alles in Handarbeit“) verdingt sich als Sportjournalist für die Süddeutsche Zeitung und reist zusammen mit seiner zunächst fußballuninteressierten Frau Annette (Katharina Wackernagel, „Schrei – denn ich werde Dich töten!“) beruflich in die Schweiz, wo Annette immer mehr der Fußballfaszination erliegt. Die Handlungsstränge spielen sich vor dem Hintergrund der Fußballweltmeisterschaft ab, wobei der Fokus auf Familie Lubanski liegt. Vater Richard steht stellvertretend für die Generation der Spätheimkehrer, jene tragischen Gestalten, die zunächst für die falsche Sache ihr Leben riskiert und oftmals auch fremdes genommen haben, danach in Kriegsgefangenschaft gerieten und schließlich in eine Welt entlassen wurden, die sich ohne sie weitergedreht hatte, die sie nicht mehr verstanden und in der es ihnen schwerfiel, Fuß zu fassen. Seine Frau Christa repräsentiert eine Vertreterin des vermeintlich „schwachen Geschlechts“, die wie so viele Mütter der Nachkriegszeit ohne ihren Mann auf sich allein gestellt war, jedoch die Ärmel hochkrempelte und selbst zur Ernährerin der Familie avancierte. Bruno und Christa stehen für den kompletten ideologischen Bruch mit dem sog. „Nationalsozialismus“: Christa genießt den Lebenswandel und die Kultur der westlichen Besatzer und ist zu einem lebenslustigen Backfisch aufgeblüht, während Bruno das sowjetisch gesteuerte Realsozialismus-Experiment der DDR für erstrebens- und unterstützenswert hält und schließlich auch seine Hoffnung in es setzt. Matthias schließlich ist eines derjenigen Kinder, die gänzlich ohne Vater aufgewachsen sind und sich daher Ersatzvaterfiguren suchen. Während der Strang um die Familie relativ eng mit dem Verlauf der WM verknüpft ist – bereits durch die persönliche Freundschaft Matthias‘ zu Helmut Rahn –, funktioniert jener um die Ackermanns losgelöst vom Schicksal der Familie und ist im Gegensatz zum Großteil des Films komödiantisch konnotiert. Beiden gemein ist die Bezugnahme auf das Turnier. Die erwähnte Fokussetzung des Films wird auch daran deutlich, dass zwar – in übrigens überaus pittoresken Bildern – immer wieder aus dem Quartier der Mannschaft am Thunersee berichtet wird, wo neben Herberger insbesondere die Spieler Helmut Rahn und der legendäre Kapitän Fritz Walter (Knut Hartwig, „Arbeitsfalle“) herausstechen, jedoch lediglich ein Spiel mit großen Aufwand nachgestellt wird: Das alles entscheidende Endspiel, in dem man erneut auf die Ungarn traf, aber diesmal als überraschender Sieger vom Platz ging.
Wortmann geht sensibel genug vor, um ein realistisch anmutendes, ambivalentes Bild der Nachkriegszeit zu zeichnen. Behilflich sind dabei Kulissen, Kleidung etc., die das Publikum regelrecht in jene Epoche entführen, wozu auch die herausragenden schauspielerischen Leistungen beitragen. Weder wird dem deutschen Volk eine Opferrolle angedichtet noch wird es als bestehend aus unverbesserlichen Altnazis und Revisionisten dargestellt. Dabei erweist sich die Fokussierung auf eine einfache Familie aus der Arbeiterklasse sinnvoll. Deren männliches Oberhaupt Richard ist ein gebrochener Mann, dessen Rückgriff auf eine klassisch patriarchalische Rollenverteilung lediglich seiner Hilflosigkeit Ausdruck verleiht. Je mehr er sich öffnet und Worte findet, um seine Erfahrungen zu beschreiben, desto verständlicher kann er sich seiner Familie machen. Die Annäherung an Matthias geschieht langsam und unterliegt immer wieder Rückschlägen, die schließlich in Matthias‘ Flucht von zu Hause eskalieren. Eine entscheidende Rolle, sie wieder zusammenzuführen, spielt der Fußball, sodass der Sieg der deutschen Mannschaft gewissermaßen gleichbedeutend mit dem endgültig gebrochenen Eis zwischen Vater und Sohn ist, damit auch für eine Versöhnung steht, die stellvertretend für die – zumindest zeitweise – Versöhnung des Volks mit dem Nachkriegsdeutschlands steht, dem dieser Sieg ein großes, nichtkriegerisches Erfolgserlebnis bescherte und zu Akzeptanz und Selbstbewusstsein verhalf. Dabei bleibt er frei von etwaigen nationalistischen Untertönen und reitet auch keine patriotische Sau durchs Ruhrgebiet, im Gegenteil: Statt wie so häufig die von Rachsucht geprägten Verbrechen der Roten Armee zu Zeiten der Niederschlagung und Besatzung des Dritten Reichs hervorzuheben, lässt Wortmann durch Richard auf die vorausgegangenen deutschen Kriegsverbrechen sowie auf den Umstand, dass sich auch Sowjets ihm gegenüber helfend und freundlich verhalten haben, verweisen. Die Arbeit der „Trümmerfrauen“ wird nicht idealisiert, sondern als alternativlose Notwendigkeit gezeigt. Der Sieg der deutschen Nationalmannschaft ist kein Ergebnis biologischer deutscher Überlegenheit, sondern Resultat harter Arbeit, taktischer Raffinesse und Teamgeists. Gefeiert wird er nicht von überheblichen „Party-Patrioten“, sondern von zunächst nur marginal an der WM interessiert, der Mannschaft gegenüber skeptisch gewesenen und den Titelgewinn für kaum möglich gehalten habenden Menschen in staubigen Hinterhöfen und rustikalen Eckkneipen. Der Film zeigt, wie Fußball Menschen zusammenbringt – nicht, wie er sie trennt.
Innerhalb seines Fußball-Strangs stellt „Das Wunder von Bern“ den Turnierverlauf sehr detailgetreu nach und zeigt dabei auf, wie es gelang, ein Außenseiterteam aus Amateuren ohne eigene Liga zu motivieren. Herbergers taktische Kniffe werden auf eine Weise erklärt, dass auch Laien sie nachvollziehen können. Man flicht die Rolle des Adidas-Gründers Adi Dassler (Joachim Kappl, „Der Pirat“) und seiner Schraubstollen ein und ruft den Begriff des „Fritz-Walter-Wetters“ ins Gedächtnis. Aller Ehren wert ist auch, dass es gelungen ist, für die Spieler Darsteller zu finden, die sowohl allesamt eine verblüffende Ähnlichkeit zu ihren verkörperten Figuren aufweisen als auch tatsächlich Fußball spielen können: Sie mussten alle echte Erfahrungen als aktive Fußballer mitbringen. Unterlegt von größtenteils orchestralischer Musik, die an Produktionen aus den 1950er Jahren erinnern soll, glückte Wortmann & Co. der Spagat zwischen einem stellvertretend für einen großen Anteil der damaligen Bevölkerung der BRD stehenden individuellen Drama und der Reinszenierung eines sportlichen Großereignisses, das untrennbar mit der Nachkriegszeit verbunden ist. Damit verfilmte Wortmann ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte, das das positive Potential des Fußballs skizziert und zeigt, wie ein Volk nach politischen Super-GAUs, Weltkrieg, Holocaust, Mord und Totschlag generationsübergreifend zu positiven Identifikationsmöglichkeiten zurückfindet, die auf konstruktive, kreative, friedliche Weise mit fairen Mitteln unter hohen Anstrengungen erreicht wurden. Die weitestgehend kitschfreie, differenzierte Auseinandersetzung lässt dann auch den Verzicht auf manch pikantere Informationen verzeihen, z.B. Herbergers eigene Rolle in der NS-Zeit und die geschmacklose Reaktion des Publikums vor Ort im (übrigens nicht ausverkauften) Berner Stadion, die die deutsche Nationalhymne mit allen Strophen anstimmte… Meinem aktuellen Kenntnisstand zufolge blieb dies eine Randerscheinung, denn der Titelgewinn habe nicht, wie mancherorten befürchtet, zu einem Wiedererstarken des Nationalismus geführt, sondern vorrangig den Fußballsport aufgewertet und die Kluft zwischen Hoch- und Trivialkultur verringert, zumindest für die Dauer eines Turniers Grenzen überwunden und den Grundstein gelegt für eine Fußballbegeisterung weit übers Regionale hinaus. Da mich „Das Wunder von Bern“ dann auch noch mit seinem melancholischen Ende vor der Kulisse eines Sonnenuntergangs, für den man in Deutschland auch erst einmal zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein muss, nachhaltig berührte und insgesamt nicht nur als Fußball-Fan geradezu begeisterte, muss ich hier 8,5 von 10 Schraubstollen verbauen.