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„Visuelle Bildung ist genauso wichtig wie die literarische.“

Kurz nach der Premiere seines Films „Casino“ im Jahre 1995 erschien Martin Scorseses knapp vierstündige, meist in drei Teilen ausgestrahlte und fürs europäische TV produzierte Dokumentation „Martin Scorseses Reise durch den amerikanischen Film“, die der italienischstämmige US-Ausnahmeregisseur zusammen mit seinem Kollegen Michael Henry Wilson realisiert hatte. Scorsese führt als Erzähler durch die Historie des US-Kinos von dessen Anfängen bis ins Jahr 1969 – also zu jenem Zeitpunkt, an dem er seinerseits begann, Spielfilme zu drehen. Der Dokumentarfilm ist in unterschiedliche thematische Kapitel unterteilt und nicht nur mit zahlreichen Filmausschnitten illustriert, sondern mit einigen Interview-Schnipseln mit Kathryn Bigelow, Frank Capra, John Cassavetes, Francis Ford Coppola, Brian De Palma, André De Toth, Clint Eastwood, John Ford, Samuel Fuller, Howard Hawks, Elia Kazan, Fritz Lang, George Lucas, Gregory Peck, Arthur Penn, Nicholas Ray, Douglas Sirk, King Vidor, Orson Welles und Billy Wilder angereichert – zum Teil handelt es sich um Archivmaterial, zum Teil um von Scorsese selbstgeführte Interviews.

„Es gibt keinen moralischen Kompass mehr.“

Ausgehend von Vincente Minnellis Drama „Stadt der Illusionen“ aus dem Jahre 1952 und dem von Scorsese betonten ewigen Interessenskonflikt zwischen Regie und Produktion werden als die initial bedeutendsten, gewissermaßen US-typischen Genres der Western, der Gangsterfilm und das Musical genannt. Diesen drei Genres ist der erste Teil der Dokumentation gewidmet, wobei Scorseses Fach- und Detailwissen im Kontrast dazu steht, dass der offene Hyperrassismus gegen Afroamerikaner des 1915 neue Standards setzenden „Geburt einer Nation“ von Regiepionier Griffith ebenso verschwiegen wird wie der des US-Westerns, der den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern glorifizierte. Kaum, dass das US-Kino seine eigentliche Geburt erlebt hatte, hatte es auch schon seine Unschuld verloren. Auskunftsfreudiger wird Scorsese indes, wenn er die Systemkritik der Nachkriegs-Gangsterfilme skizziert (was für mich persönlich auch wesentlich interessanter ist als die verdammten Musicals). Dass viele der (unproblematischeren) genannten Filme in Deutschland nie fürs Heimkino erschienen sind, ist ernüchternd.

„Der Gangster karikierte den amerikanischen Traum.“

Teil 2 greift die eigentlichen Anfänge des Films und seiner Kameratechniken auf, bewegt sich also zunächst ein gutes Stück in der Zeit zurück. Den italienischen Monumentalfilm „Cabiria“ (1915, Regie: Giovanni Pastrone) nennt Scorsese als Vorbild für pompöse US-Produktionen, verharrt zunächst bei frühen Monumentalepen und schlägt schließlich eine Brücke zu Murnaus „Sunrise“ und anderen Stummfilmklassikern. Der Übergang zur Tonfilm-Ära wird u.a. anhand eines Ausschnitts aus einem Seminar o.ä. illustriert, doch recht schnell ist Scorsese beim frühen Farbfilm und den sich damit neu ergeben habenden Möglichkeiten, die die Scope-Formate noch einmal erweiterten. Bedeutet der Einzug des Digitalen in die Filmherstellung das Ende der ausladenden Epen? Einst aktuelle Computermöglichkeiten werden von einem Fachmann erläutert, immerhin arbeitete bereits Kubrick für „2001“ (1968), der ausgiebig geehrt wird, mit solchen. Nicht nur Brian De Palma nimmt moderne Technologie daher in Schutz. Letztlich geht es unabhängig von der verwendeten Technik um die Magie des Kinos, die hier in viele passende, schöne Worte gekleidet wird.

Szenenwechsel, im wahrsten Sinne des Wortes: Den nun folgenden Abschnitt nutzt Scorsese für eine wunderbare Ehrerbietung an Low-Budget- und B-Movies. Als herausragende Beispiele führt er Jacques Tourneurs „Katzenmenschen“ (1942) und „Ich folgte einem Zombie“ (1943) an und nennt den Franzosen einen Pionier des düsteren Low-Budget-Films, bevor er sich dem Film noir als Stimmung und Stil und dessen Regisseuren wie Max Orpheus und anderen europäischen Auswanderern widmet, begleitet von Statements zahlreicher Filmemacher. Mit Ida Lupino hebt er auch eine Regisseurin hervor. Schade, dass sich in diesen Abschnitt in der deutschen Bearbeitung ein Fehler geschlichen hat, indem Robert Aldrichs „Rattennest“ (1955) als „Rattengift“ bezeichnet wird.

Im dritten Teil verdeutlicht Scorsese, wie wichtig kleine Filme für Wagnisse und als Experimentierfelder sind und gräbt Allan Dwans Western „Stadt der Verdammten“ (1954) als Beispiel für einen gehaltvollen, zu Unrecht vergessenen B-Film, in den politkritische Metaphern „hineingeschmuggelt“ worden seien, aus. Weitere 1950er-Filme, die kritische Haltungen transportierten, seien Americanas gewesen – beispielsweise „Eine Handvoll Hoffnung“ (1956), dessen Regisseur Nicholas Ray persönlich zu Wort kommt. Oder auch Samuel Fullers Filme, die sich gegen Selbstgefälligkeit und Arroganz während des Kalten Kriegs gerichtet hätten – woraufhin Fuller eine alte Anekdote auspackt. Dieser Teilbereich schließt mit dem Ende des „goldenen Zeitalters“ und dem Zusammenbruch des Studiosystems.

Mit am interessantesten wird es, wenn Scorsese die „Bilderstürmer“ anspricht. Als diese klassifiziert er offen unkonventionell agierende Regisseurinnen und Regisseure, die Tabus brechen. Als Resultate nennt er Griffith‘ „Gebrochene Blüten“ (1919), von Strohheims „Der Hochzeitsmarsch“ (1928), Browns „Hell's Highway“ (1932), Wellmans „Kinder auf den Straßen“ (1933), von Sternbergs barocke Filmwelten und Arbeiten mit Marlene Dietrich sowie schließlich Welles‘ „Citizen Kane“ (1941) und Chaplins „Der große Diktator“ (1940) – und einmal mehr muss man sich wundern, wie unpopulär viele der genannten Werke hierzulande sind.

Elia Kazans „Endstation Sehnsucht“ (1951) und „Die Faust im Nacken“ (1954) werden als Nachkriegsfilm, die den Production Code (also die US-Filmzensur) überwanden, ins Feld geführt und Kazan als Wegbereiter offener Kino-Tabubrüche zugunsten eines gesteigerten filmischen Realismus genannt. In diesem Zuge werden ferner Premingers „Der Mann mit dem Goldenen Arm“ (1955) über Drogensucht und Mackendricks „Dein Schicksal in meiner Hand“ (1957) über die Gier nach Macht angeführt, während Wilders „Eins, zwei, drei“ (1961) als Beispiel für scharfzüngige Komödien genannt wird und Wilder ebenfalls für ein persönliches Statement gewonnen werden konnte. Und im Anschluss äußert sich Arthur Penn zu „Bonnie & Clyde“ (1967), womit man im New Hollywood angekommen ist. Nachdem Scorsese bereits „2001“ gefeiert hatte, kehrt er noch einmal zu Kubrick zurück und hebt ausgerechnet dessen „Lolita“ (1962) und „Barry Lyndon“ (1975) – laut Scorsese Kubricks gewagtester Film – hervor, was mich daran erinnert, mir diese endlich einmal anzusehen. Zu seinen eigenen Psychodramen kommt Regisseur John Cassavetes selbst zu Wort, bevor Scorsese zum Ende hin auf andere Dokumentarfilme über Filme und Regisseure, die schon oft gefeiert wurden und populärer sind, verweist – und mit Kazans „Die Unbezwingbaren“ (1963) seine Ausführungen schließt. Scorseses letzte Worte gelten den Parallelen zwischen religiöser Spiritualität und der des Films, die er erkennt und zieht – und bezeichnenderweise wurde dann auch sein nächstes Projekt die Dalai-Lama-Biographie „Kundun“…

„Martin Scorseses Reise durch den amerikanischen Film“ ist eine spannende Übersicht über Scorseses Einflüsse und bietet inspirierende Einblicke in seine Weise der Filmrezeption. Mir gefällt Scorseses Herangehensweise in ihrer Mischung aus subjektiver Perspektive und einer nicht ganz gewöhnlichen Strukturierung, die dennoch stets nachvollziehbar und meist chronologisch schlüssig bleibt und bei aller persönlichen Herangehensweise auf angenehme Weise sachlich, respektvoll und umfangreich wirkt. Gewissermaßen handelt es sich um ein Plädoyer Scorseses fürs Studium alter Filme, wenngleich er sich ab 1970 mit der Begründung, ab dann selbst aktiver Teil des US-Kinos geworden zu sein und somit den Publikumsblick verloren zu haben, geschickt aus der Affäre zieht. Wie er bis dahin frei von der Leber weg offenlegt, woraus er seine Inspirationen bezieht und in aller Bescheidenheit gar nicht erst so tut, als würde er mit seinen (nicht selten herausragenden) eigenen Filmen das Rad neu erfinden, ist jedoch aller Ehren wert.

Zugleich ist dieser Film fast so etwas wie eine Werbesendung für Regisseure, die hier mit etlichen intelligenten Aussagen glänzen. Größter Dank gebührt Scorsese zweifelsohne dafür, wie viel Platz er gerade den „kleineren“ Produktionen, den Low-Budget- und B-Filmen, einräumte und auf ihre Bedeutung verwies. So ziemlich jeder Filmbegeisterte dürfte aus dem Genuss dieses Dokumentarfilms in jedem Falle das eine oder andere mitnehmen – oder sich schlicht knapp vier Stunden lang von Scorseses angenehmer Erzählweise gut unterhalten lassen. Normalerweise würde ich locker 8 oder gar etwas mehr Punkte für diese gehaltvolle, unprätentiöse Dokumentation zücken, aufgrund des eingangs erwähnten Makels werden es „nur“ 7,5/10 – ein Tipp für all diejenigen, die entweder ins Verständnis des Regisseurs Scorsese oder in die US-amerikanische Kino-Geschichte eintauchen wollen, ist diese Produktion so oder so unbedingt!

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