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„Du bist mein Hauptproblem!“

Mit der Münchner „Polizeiruf 110“-Episode „Paranoia“ verabschiedet sich Oberkommissarin Elisabeth „Bessie“ Eyckhoff (Verena Altenberger) nach sechs Fällen aus der öffentlich-rechtlichen Krimireihe. Die Mischung aus Verschwörungskrimi und Psycho-Thriller wurde von Martin Maurer sowie Claus Cornelius Fischer geschrieben und von Tobias Ineichen („Tatort: Kriegssplitter“) inszeniert, der damit seinen ersten „Polizeiruf“ absetzte. Die Erstausstrahlung erfolgte am 11. Juni 2023.

„Das ist wie bei den Detektiven im Fernsehen…“

Als Rettungssanitäterin Sarah Kant (Marta Kizyma) und ihr Kollege Carlo Melchior (Timocin Ziegler, „Zwischen uns“) zu einem Einsatz in einer Wohnung gerufen werden, kommen sie anscheinend gerade noch rechtzeitig, um einen mutmaßlichen Mordversuch zu unterbrechen und durch ihr Eintreffen den Täter in die Flucht zu schlagen. Sie bringen die schwerverletzte Frau Schnabel (Maria Lüthi, „Madrid“) nach der Erstversorgung ins Krankenhaus, wo man am nächsten Tag jedoch nichts von dieser Patientin wissen will. Ein Fehler im Computersystem, eine Lücke in der Dokumentation? Oder steckt mehr dahinter? Die psychisch labile Sarah, die sich gerade in einem schmerzhaften und kräftezehrenden Trennungsprozess von ihrem Kollegen Carlo befindet, glaubt, dass mehr dahintersteckt, und bringt auch den Wagen, von dem sie sich während des Patientinnentransports ins Krankenhaus verfolgt wähnte, damit in Verbindung. Zudem hat die Patientin ihr offenbar eine Videokassette mit pikanten Aufnahmen in den Notfallrucksack gesteckt. Kommissarin Eyckhoff untersucht mit ihrem Kollegen Dennis Eden (Stephan Zinner) gerade einen anderen Mordfall, als Carlo tot aufgefunden wird und sich damit ihre und Sarahs Wege kreuzen…

„Paranoia“ wird zu großen Anteilen aus Sarahs Perspektive erzählt, was diesem „Polizeiruf 110“ die Möglichkeit eröffnet, mit dem Element der unzuverlässigen Zeugin als Abwandlung des unzuverlässigen Erzählers zu arbeiten und zu spielen. Zunächst handelt „Paranoia“ vornehmlich von den großen Herausforderungen, die ein beruflicher Kollegenstatus mitsichtbringt, wenn es sich bei jenem Kollegen gleichzeitig um den Ex-Lebensgefährten handelt und die Trennung nicht einvernehmlich erfolgte. Während Carlo sich bereits wieder mit anderen Frauen trifft, ist Sarah alles andere als über die Trennung hinweg. Als sie in seine Wohnung eindringt – sie hat noch immer den Schlüssel – und damit ein Rendezvous Carlos mit einer Neuen jäh unterbricht, missversteht er dies als Eifersuchtsposse, obwohl ihre primäre Motivation darin begründet liegt, ihren noch an seinem Fernseher angeschlossenen Videorekorder zu nutzen, um sich die Kassette anzusehen. Dies wird nach wenigen Sekunden von Carlo unterbunden und der Videorekorder geht kaputt. Sarahs weitere Versuche, anachronistisch anmutend noch irgendwo einen funktionstüchtigen Rekorder vorzufinden, münden in groteske Situationen, die zugleich Hinweise auf ihren psychischen Ausnahmezustand geben. Dieser wird zuweilen auch recht stimmig audiovisualisiert.

Nach Carlos Ableben, das offscreen stattfindet, stehen für die Filmfiguren ebenso viele Fragen im Raum wie für das Fernsehpublikum. Sarah wird zur Zeugin, Tatverdächtigen und Privatermittlerin zugleich – und wird zusehends misstrauischer, insbesondere gegenüber der Polizei, was Eyckhoffs und Edens Ermittlungen erschwert. Die Spuren dieses undurchsichtigen, aber stets interessanten Falls führen schließlich zu einer real existierenden, gesetzlich legitimiert verschwörerisch tätig sein dürfenden ehemaligen NS-Organisation, womit dieser Fall klug und kritisch an Systemfragen rührt. Der zwischenzeitlich eingestreute, auflockernde Humor (inklusive einer seltsamen Toaster-Animation, in deren Zusammenhang ich irgendwo von einer „Nahtoasterfahrung“ las) ist nicht unbedingt meiner, dafür begleitet man die sehr ambivalente und von Marta Kizyma eindrücklich gespielte Figur der Sarah bis in ein superspannendes Finale hinein, auf das ein wenig kathartisches, dafür umso mehr Unwohlsein erzeugendes offenes Ende folgt. Dieses verhindert leider einen standesgemäßen Abschied Eyckhoffs aus der Reihe, den sie verdient gehabt hätte. 7,5 von 10 Amateurvideos auf dem Kindergeburtstag für diese nichtsdestotrotz sehr sehenswerte Abschiedsvorstellung!

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