Drei Frauen auf einfachen Stühlen in einem grauen Kellerabgang, die Neonröhre flackert, erzeugt ein gespenstisches Licht. Sie sind Callgirls. Warten darauf, dass ihre Fahrer sie mit der Nachricht "Du hast Kundschaft" nach oben rufen. Miyabi ist eine von ihnen. Der erste Ruf erreicht ihre Kollegin Akari. Später sehen wir Miyabi in ihrer schmucklosen Wohnung in einem anonymen Hochhaus. Der Fernseher läuft. Es wird berichtet von dem Amoklauf einer jungen Frau. Miyabi erkennt Akari. Scheinbar ohne Grund hat sie mit einem Messer mehrere Menschen schwer verletzt bzw. getötet und ist dann spurlos verschwunden.
Zurück zu Miyabi, zurück zum Vorspann mit seinen Bildern sich entwickelnder Lebensformen, Insekten, Menschen, eine brennende Stadt. Traumbilder, Halluzinationen? Dann die Realität. Ein kleines Mädchen möchte Blumen auf dem Balkon gießen, steigt auf eine Leiter, dann ist die Kleine verschwunden. Miyabi wohnt noch immer in der Wohnung, in der ihre Tochter Aoi vor drei Jahren durch den Sturz vom Balkon tödlich verunglückte. Ihr Gatte hat sie verlassen, gibt ihr die Schuld am Tod der Tochter. Miyabi hat einen neuen Lebensgefährten, der mehr schlecht als recht in der Musikbranche sein Geld verdient. Sie führen keine intensive emotionale Beziehung, eher eine Zweckgemeinschaft.
Miyabi wird zu einem Kunden, Oka, bestellt. Er möchte keinen Sex, nur Polaroid-Fotos. Das Gesicht ist tabu, nur bestimmte Körperpartien, Wirbelsäule, Gliedmaßen etc. Irgendwann erhält man die Information, dass Akari kurz vor ihrer Tat beim gleichen Klienten war. Kann er ihr Handeln erklären? Erklärungen liefert dieser Film nicht. Wer in Filmen nach Erklärungen sucht, ist ohnehin nur zu faul zum Denken. Oka behauptet, dass Aoi noch da sei, bei Miyabi, in deren Wohnung. Miyabi beginnt zu träumen, zu phantasieren, verliert sich in einer Art Zwischenwelt zwischen Imagination und grausamer Realität. Letztere fordert schließlich ihren Tribut und Miyabi fasst einen konsequenten Entschluss. Nach dessen filmischer Umsetzung wird der Bildschirm schwarz, kein Abspann. Ein Ende, ähnlich erschütternd wie z.B. in THE NAMELESS, THE EYES OF MY MOTHER, LOCKDOWN TOWER ...
Spielfilm-Debütant Keishi Kondo agiert stilsicher über die gesamte Laufzeit. Grobkörnige Bilder, die Nachtaufnahmen gerne monochrom in Primärfarben hinterleuchtet, ein unheimlicher ambient-ähnlicher Elektronik-Soundtrack, nie zu aufdringlich, um die Bilder zu dominieren. Ein Blick in eine traumatisierte Seele, fragil wie die Flügel eines Falters. Wer einen typischen J-Horror erwartet, wird enttäuscht, ja überfordert. Das hier ist ein subtiles, düsteres Psychodrama, das einem als Zuschauer einiges abverlangt. Der Film beschäftigt einen lange. Beeindruckend.
Das sind genau die Filme, die den eigentlichen Reiz des Fantasy-Filmfests ausmachen. An dieser Stelle einen herzlichen Dank dafür.