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Epik und Kinetik - John Wick als Freiheitskämpfer in eigener Sache


Wer das Wesen des Kinos analysieren oder dekodieren will, kommt an dem Begriff „Action“ nicht vorbei. Er steht für Bewegung, Handlung, ganz allgemein das Tätigsein. Nicht umsonst beginnt nach wie vor jede Ankündigung einer neu zu drehenden Szene mit diesem Schlagwort. Gleichzeitig, und vielleicht sogar noch mehr, ist er inzwischen aber auch als Genrekennzeichnung fest etabliert. Der Actionfilm definiert sich zuvorderst durch Bewegung, welche wiederum die Erzählhandlung vorantreibt, oder wenigstens rechtfertigt. Die Protagonisten sind permanent in Aktion und lösen so auch die zentralen Konflikte. Dazu wird häufig gerast, gerannt, geschossen und/oder gekämpft, was dem Genre in der allgemeinen Wahrnehmung den zusätzlichen Gewalt-Stempel verpasst hat.

Dass diese Stigmatisierung zu pauschal ist bzw. zu kurz greift, zeigt nicht zuletzt das Beispiel des Mission: Impossible-Franchises, das den Actionbegriff vor allem durch irrwitzige Stunts auf ein neues Level gehoben hat. Zu beobachten oder zu erkennen ist diese vielschichtigere Identität sogar beim aktuellen Genre-Primus John Wick. Sogar, weil die Filmreihe um den stoischen Auftragskiller vornehmlich als Gewaltorgie (bei Action-Kostverächtern) oder Ballerballett (bei Action-Gourmets) wahrgenommen und beschrieben wird. Zweifellos spielen Gewaltlevels und Härtegrad auch im Vergleich mit ruppigeren Genre-Kollegen in einer eigenen Liga. Bereits im Originalfilm pflügt sich John Wick regelrecht durch eine hohe zweistellige Zahl an Gegnern, die er zudem final fast ausschließlich per Kopfschuss ausschaltet. In den beiden Sequels werden die Angriffswaffen und Tötungsarten dann kreativer und unterschiedlicher. Das ist sicherlich dem stetig wachsenden Bodycount geschuldet, schließlich soll sich der Zuschauer nicht langweilen. Was aber in den Sequels auch immer mehr zu Tage tritt, sind die zwei weiteren Kennzeichen der Reihe, die dann in Summe den aktuellen Ausnahmestatus der Reihe zementieren. Vor diesem Hintergrund ist der neueste Ableger, John Wick: Kapitel 4, das Opus Magnum des Franchises.

Die Wick-Filme mögen vordergründig reinrassige Actionfilme im Sinne von „Ein Mann schießt sich durch“ sein. Was sie aber vom schnöden Genre-Standart abgrenzt, ja, weit darüber hinaus hievt, sind Bildkomposition und Stuntchoreographie. Irgendwo stand zu lesen, dass man sich praktisch jede Einstellung aus John Wick 4 als Poster ausdrucken und an die Wand hängen könnte. Das mag ein wenig nach nerdigem Faktum klingen, trifft aber die Essenz des neuesten Films sehr genau. Exemplarisch steht dafür eine Szene in der Filmmitte, als der New Yorker Concierge Winston im Auftrag John Wicks den Vertreter der Verbrecherorganisation konsultiert die ihn ein für alle Mal ausschalten will. Diese Zusammenkunft findet nicht etwa in irgendeinem schicken Hightech-Büro statt, sondern im Pariser Louvre. Und dieses Gespräch beginnt auch nicht sofort, sondern zuerst schreitet Winston an einem halben Dutzend weltberühmter Gemälde vorbei, bis er vor Eugene Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“ stehen bleibt. Dort wie im Film geht es um Freiheit gegenüber einer als autoritär und verkrustet empfunden Institution, die ihre Ziele seit Generationen brutal und im genussvollem Bewusstsein der eigenen Macht durchsetzt. Dieser zugleich episch-elegische wie auch historisierende Ton zieht sich durch den ganzen Film und macht ihn vor allem zu einem optischen Fest. Besonders eindrucksvoll ist diesbezüglich der Auftakt in Japan, bei dem der dort gelebte Spagat zwischen Tradition und Moderne durch kunstvolle arrangierte Bildkompositionen von Kirschblütengärten und Neon/Chrom-Interieurs visualisiert wird.

Diese Mischung aus barocker Schwere und moderner Leichtigkeit prägt auch die Actionszenen. Dabei bilden Optik und Kampfchoreographie eine symbiotische Einheit, die in dieser Perfektion bisher nicht zu sehen war. Auf den uralten Stufen zur Pariser Score Coeur-Kirche geht es ruppig mit Faust und Pistole Mann gegen Mann, im stylischen Continental von Tokyo geben blitzende Schwerter und akrobatische Kampfkunst den Ton an und in einem Berliner Techno-Club folgen Schüsse und Tritte dem Beat des DJs.
Der ehemalige Stuntman Chad Stahles erweist sich dabei als visionärer Kopf. Schon zum dritten Mal in Folge variiert er die simple Grundformel des Ein-Mann-Feldzuges mit todschicken Bildern und fantastischen Action-Choreographien sowie -ideen. Einen Fall über mehrere hundert Stufen, ein von oben gefilmter Kampf durch dutzende Innenräume oder eine Massenkeilerei inmitten des dicht befahrenen Kreisverkehrs rund um den Pariser Arc de Triomphe sind noch nie dagewesene Schauwerte.

Kein Wunder, dass sich inzwischen zahlreiche Actiongrößen darum reißen ein Teil der Serie zu werden. Die wiederum profitiert ihrerseits von deren Expertise. Im Teil 4 ist es vor allem der chinesische Super-Star Donnie Yen, der für einen erneuten Qualitätsschub im Vergleich zum Vorgänger sorgt. Als blinder Killer Caine zelebriert der Besitzer einer eigenen Stuntmannschaft Kampfkunst auf allerhöchstem Niveau und ist schon allein das Kinoticket wert. Scott Adkins dagegen ist zwar kein Superstar, aber immerhin der aktuelle einzige westliche reinrassige Actiondarsteller mit einer immerhin stetig wachsenden Fangemeinde. Und auch sein Auftritt ist eines der Action-Highlights in John Wick 4. Um dabei zu sein, scheute er sich übrigens nicht einen ihn fast zur Unkenntlichkeit verdammenden Fatsuit zu tragen, in dem er auch noch schweißtreibende Martial-Arts-Kämpfe zu bestehen hatte.
Hauptdarsteller Keanu Reeves wirkt da im Vergleich etwas hölzern und ungelenk, ist aber dennoch Fix- Und Angelpunkt des Films. Er ist sicherlich kein großer Mime, aber wird auch häufig zu Unrecht belächelt. Trotz kaum Dialog stattet er den wortkargen Titelhelden mit einer charismatischen Aura aus melancholischen Stoiker und enorm präzisen Experten aus. Emotionen wie Wut, Trauer, Müdigkeit, Zuneigung oder Humor transportiert er beinahe mühelos über Blicke und Körperhaltung. Dazu nimmt man ihm trotz seiner 57 Jahre auch die körperlichen Szenen nach wie vor ab. Zwar sind seine Bewegungen langsamer und weniger fließend als die seiner Kampfkunst-Kollegen, aber in Sachen Wucht, Präzision und Effizienz ist er sehr überzeugend. Das monatelange Training und die von allen Beteiligten attestierte Hingabe beim Einstudieren der diversen Choreographien haben sich sichtbar ausgezahlt.

In Punkto, Action, Ideenreichtum, Atmosphäre und Optik ist John Wick: Kapitel 4 ein meisterhafter Film, den man unbedingt auf der großen Leinwand genießen sollte. Mindestens im Actionkino hat die Reihe einen Status erreicht, an dem sich alle anderen messen lassen müssen und an den nur sehr wenige heranreichen werden. Regisseur Chad Stahelski hat es ein weiteres Mal geschafft vornehmlich außeramerikanische Einflüsse von Sergio Leone, Akira Kurosawa, Park Chan-Wook zu einer Marke zu formen, die weltweit für allerhöchste Actionkunst steht. Die schon in den Vorgängern vorhandenen Defizite einer sehr reduzierten Grundhandlung sowie das teilweise auftretende Problem etwas zu mechanisch und repetitiv ablaufender Kämpfe sind auch im vierten Film vorhanden, werden aber von der wieder grandios arrangierten Bilderflut weitestgehend weggepustet.

Bleibt die Frage nach dem Fortgang der Serie. Reeves und Stahelski halten sich bedeckt, aber angesichts der Qualität des Films und dem absehbaren Zuschauerzuspruch - John Wick 4 scheint der Regel treu zu bleiben, dass jeder Film den Vorgänger am Box Office übertrifft  - dürfte zumindest ein fünfter Teil immer wahrscheinlicher werden. Das in dieser Hinsicht sehr geschickt konstruierte Ende lässt jedenfalls alle Möglichkeiten offen. Für das Kino an sich und die Actionfans im Speziellen wäre eine weitere Rückkehr John Wicks definitiv eine freudige Botschaft. Die Fusion von Epik und Kinetik ist nirgends so erlebbar und erfahrbar wie im dunklen Kinosaal. Auch in dieser Hinsicht steht der Perfektionist John Wick für Perfektion. Und Experten sieht man immer gern bei der Arbeit zu.

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