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Was haben die vierten Teile von „Matrix“ und John Wick“ gemeinsam? Das eingespielte Doppel Keanu Reeves / Laurence Fishburne schon mal nicht, leider. Eher schon verbindet sie der Balanceakt an den Rändern einer Simulation stilisierter Realität, entlarvt durch zahllose Glitches, die Löcher in die Illusion reißen. Die tanzenden Menschen im Club, die ob der brutalen Axtkämpfe in ihrer Mitte kurz erschrocken innehalten und sich dann doch wieder wie programmierte NPCs dem Tanzen zuwenden. Die Schurken, die im Kreisverkehr vor dem Arc de Triomphe von den Autos wie Ragdollpuppen in die Luft geschleudert werden - und die Autos, die einfach nicht aufhören wollen, im Kreis zu fahren, ungeachtet der Hindernisse auf der Fahrbahn. Der Stuntman, der so viel Spaß am Treppenpurzeln hat, dass er auch gleich noch die nächste Treppe mitnimmt, obwohl er problemlos auf der Mittelplatte hätte stoppen können. Die vielen neuen Agenten im Spiel, die sich wie digitale Mini-Neos von ihrem Neo-Zentrum ablösen und jeweils Teile seiner Persönlichkeit verkörpern.

Einiges davon deutet vor allem auf inszenatorische oder dramaturgische Schwächen hin, aber all das ist auch Zeichen eines zunehmend ausufernden Exzesses, angetrieben durch die Erfolgsgeschichte der Franchise und den stoischen Trotz ihrer Hauptfigur, die sich einfach weigert zu sterben. Der Sensenmann geht aber nicht leer aus; er wird für jede Minute, die Wick unter den Lebenden wandelt, mit einer unzähligen Menge an fachgerecht filetierten Schurken entlohnt, die an dessen Stelle draufgehen. „John Wick: Kapitel 4“ hat längst seinen emotionalen Kern um den Verlust von Frau und Hund abgestreift und sich in reine Form verwandelt. Bewegung und Kausalität füllen das aus viel Licht und Dunkelheit bestehende Ambiente mit Kreiseln und geraden Linien, bis die glatten Silhouetten in ihre Partikel aufgesprengt werden. Hotel, U-Bahn-Station, Kirche, Club, überhaupt ganz New York, Berlin und Paris... nichts als Achterbahnsimulationen in der Matrix, während die Erinnerung an die Realität im Schummerlicht der Kanalisation zu verblassen droht.

Ballettfreunde jedenfalls kommen in brachialen drei Stunden, gefüllt mit dem beständigen Gleiten durch Widerstand, hundertprozentig auf ihre Kosten. Weniger Film als Performance entfaltet sich da in permanent rotierenden Set Pieces auf der Leinwand, sie führt unter Neonröhren und durch Wasserfälle hindurch und in blendender Symbolik schließlich viele Treppenstufen hinauf zum großen Duell, das wie die ultimative Lösung für das Hydra-Problem mit der Hohen Kammer auf einmal im Raum steht. Ethos und Moral sind, das ist ironisch genug, die treibenden Kräfte dieser Unterwelt-Farce, die es sich auch erlauben kann, Freund- und Feindschaft miteinander zu vermischen wie Ölfarben, einfach weil die Agenten in einer Welt leben, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert.

Kaum mehr müssen da Mühen in Handlung oder World Building investiert werden, denn sämtliche Vorbereitungen wurden bereits in den ersten beiden Fortsetzungen getroffen. Hier ist nun das Spektakel selbst auf dem ausgerollten roten Teppich die Quintessenz, und der Teppich wird nur roter, je länger das Spektakel andauert. W-U-X-I-A buchstabiert sich der Radiosender, der zur finalen Hetzjagd läutet; die Einflüsse aus dem asiatischen Kampfkunstfilm, die schon immer in der Franchise brodelten, haben sich bis dahin längst wie die Blüten eines Kirschbaums zur Frühlingszeit entfaltet. Neben der chinesischen ist es vor allem die japanische Kultur, die der Ästhetik ihren Stempel aufdrückt – auf die Spitze getrieben in einem für amerikanische Verhältnisse würdevollen Kampf zwischen den japanischen und chinesischen Stars Hiroyuki Sanada und Donnie Yen, einem ersten von vielen folgenden Versus-Höhepunkten in diesem Epos der Körperbeherrschung.

Gerade Yen erfüllt weit mehr als die Rolle des Henchman, wie sie sonst für Darsteller seines Kalibers in Hollywood vorgesehen sind. Keanu Reeves muss die Last seiner Hauptrolle bei weitem nicht mehr alleine tragen, seine Co-Stars packen ebenfalls kräftig zu und helfen beim Tragen. Abgesehen von Yen, der mit phänomenal pointierten Einzelkampfaktionen sowie bedächtigen Momenten des Zen eine Art Zatoichi-Erbe lebendig werden lässt, schickt der Regisseur immer wieder markante Gesichter wie Laurence Fishburne, Ian McShane, Clancy Brown oder Lance Reddick vor die Linse, wenn die Action mal ausnahmsweise eine Pause braucht. Shanier Anderson wandelt gemeinsam mit seinem Hund als jugendliches Alter Ego Wicks mit großen Augen durch diese Welt und versprüht unter all den Dinosauriern einen Hauch erfrischende Naivität. Und wenn das Drehmoment wieder ansteigen soll, ist ja immer noch Scott Adkins da. Der hat offenbar mächtig Freude mit seinem Fat Suit und zollt den körperlichen Abnormitäten Tribut, die in so manchem Hongkong-Streifen als Gegner der eher schmächtigen Helden in Erscheinung traten. Eine Art böser Zwilling von Sammo Hung, ein E.Honda, so grotesk übersteigert, dass man in dem überheblichen Lachen sogar eine Comicfigur wie den Violator aus „Spawn“ zu erkennen meint. Bill Skarsgård fährt als aalglatter Connaisseur gehobener Künste bewusst auf der Klischee-Schiene des Chairman, der sich seine Finger nicht schmutzig machen will und hinter der Maske des Anstands mit fiesen Tricks operiert, was im Kontext der Thematik selbstverständlich ganz besonders nach süßem Karma verlangt. Skarsgård ist für diesen Job der richtige Mann zur richtigen Zeit, spielt er das Spiel der Beherrschung doch so überzeugend, dass die kurzen Momente des Kontrollverlusts um so deutlicher den Pennywise in den Augen aufblitzen lassen. Ein weiterer Glitch in einer Kulisse der Perfektion, voller Kunstwerke, meisterhafter Architektur und edler Backwaren.

Gerade weil „John Wick: Kapitel 4“ aus kaum mehr als markanten Darstellern, memorablen Set Pieces und spektakulären Fights besteht, ist es so erstaunlich, dass er sich unter dem Strich als bis dato beste Fortsetzung empfiehlt, wo gerade Teil 3 unter klaren Ermüdungserscheinungen zu kämpfen hatte. Müde wirkt auch Keanu Reeves in seiner neuesten Paraderolle. Jede Bewegung schmerzt in dieser Sisyphus-Sage, die schließlich bei Sonnenaufgang auf einem Gipfel endet. Die Laufzeit ist lang, seeeehr lang, und ganz sicher rechtfertigt sie sich nicht durch einen wie auch immer gearteten Inhalt. Chad Stahelski, der als Architekt sein eigenes Universum immer weiter ausbaut, zeigt im Detail einige Schwächen, die sich High-End-Actionfeuerwerke wie „Mission Impossible: Fallout“ nicht erlaubten (leicht zu überprüfen dank sich überschneidender Schauplätze). Man tut aber einen Teufel, sich über diese Punkte zu beschweren. Lieber schwelgt man in den langen Choreografien, die man aus allen möglichen Perspektiven in langen Kamerafahrten gemeinsam mit der Kulisse genießt, man verliert sich im Licht von tausend Kerzen und im Meer künstlichen Neonlichts, immer wissend, dass man da einer Illusion ohne echten Inhalt aufsitzt. Und doch wünscht man sich, der Weg durch Gegnerhorden möge niemals enden.

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