Review

Schaut man [Achtung: Spoiler!] dem wüsten Treiben auf dem RackaRacka-YouTube-Kanal zu, dürfte man entweder ob der gezeigten Unflätigkeiten und Derbheiten genervt abwinken oder aber Sympathie empfinden für eine abwegige Subkultur, die früher im Underground-Film der Kuchars, eines Jack Smith oder auch Curt McDowell, später in den Midnight Movies eines John Waters und noch später – und bereits etwas kommerzialisierter – in Lloyd Kaufmans Troma-Trashschmiede ihren Platz hatte und heute gerade auch auf Videoportalen – selbst auf den pornografischen – fortbesteht; aber man dürfte solcherlei Clips kaum als nennens- oder bemerkenswerte Kunst betrachten, sondern ihnen eher die Kurzlebigkeit und den Zerstreuungscharakter von Katzenvideo beimessen.
Mit "Talk to Me" setzen Danny und Michael Philippou ihr RackaRacka-Sujet in Form eines beinahe schon mainstreamkompatiblen Spielfilms fort; die eigene Herkunft nicht verleugnend, aber doch angepasst an die Konventionen eines lichtspielhaustauglichen Horrorfilms... eines lichtspielhaustauglichen, aber doch eigenwilligen Horrorfilms; vertrieben immerhin in den USA von A24, was bereits die Möglichkeit der Sperrigkeit verspricht, welche sich auch erfreulicherweise entfaltet.
Drei Gedankensammlungen seien kurz vorausgeschickt, ehe es in media res geht...

Handkontakt:
Hand-Kontakt ist ein ausgesprochen intimer Kontakt. Pflege, Alternativmedizin, esoterische und religiöse Rituale kennen das Handauflegen, das einen besonderen Zugang herstellt, besonders intensiv und intim, heilend und segnend mitunter. Der Handschlag oder Handgruß ist die Bekundung von Vertrauen wie auch von Zuneigung – allerdings in den letzten Jahrzehnten ein wenig profan und banal geraten, als leere, förmliche Geste ohne tiefere Bedeutung (auch wenn zuletzt ausgerechnet die COVID-19-Pandemie mit einem der wenigen erfreulichen Nebeneffekte dafür gesorgt hat, das diese sinnentleerte Form des Grußes minimal rückläufig geraten ist). Von Hand zu Hand wird etwas empfangen oder gegeben – selbst, wenn kein Gegenstand dabei den Besitzer wechselt. Filme stellen das mit dem Handgruß in Großaufnahme besonders deutlich aus; am schönsten geschehen bislang noch immer bei Godard, wiederholt, in mehreren Filmen. In seiner "Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard" spricht Volker Pantenburg angesichts solcher Filmszenen von "[z]wei oder drei Möglichkeiten, mit den Händen zu sprechen"[1]. Der Handkontakt ist Kommunikation: Kommunikation mit anderen etwa beim Handgruß, beim Händchenhalten, bei sanft streichelnder Geste, Kommunikation mit dem Innenleben und dem großen Ganzen im Gebet, mit gefalteten Händen, Handteller auf Handteller. Die äußersten Extremitäten fügen sich im Gebet zusammen, schließen einen Kreis, lassen einen ganz bei sich sein und in diesem Zustand sich selbst im Einklang mit dem Anderen, dem Allumfassenden, erleben (und schirmten ursprünglich Dämonen und böse Geister ab). In der – freilich obskuren – Anthroposophie ist gar die Überzeugung anzutreffen, beim allmählichen Zusammenführen der eigenen Handinnenseiten eine intensivierte Energie wahrnehmen zu können. Und dann wäre da noch dieses eine Bild: zwei Fingerspitzen, die sich hauchzart beinahe berühren und im Moment vor dieser kommenden Berührung das wichtigste, das erste Menschheitsereignis aus streng christlicher Perspektive in Aussicht stellen; es sind der Zeigefinger Adams und der Zeigefinger Gottes in Michelangelos "Creazione di Adamo" (1512).

Talismane, Mumifiziertes, Amputiertes, Transplantiertes:
Kaum ein(e) Liebhaber(in) unheimlicher Literatur kennt nicht William Wymark Jacobs' Kurzgeschichte "The Monkey's Paw" (1902), die das Märchen der drei Wünsche auf garstige Weise durchspielt und eine mumifizierte Affenpfote als unheimlichen Talisman und (Un-)Glücksbringer als Dreh- und Angelpunkt der morbiden Wunscherfüllungs-Geschichte nimmt. Ein mumifiziertes Körperteil ist die ideale Prämisse für diese horrible Variation des bekannten Märchens, weil in ihm das Dies- und Jenseitige zusammenfallen: Es gehört einem schon lange toten Geschöpf und ist dennoch – ohne zu faulen, ohne zu verwesen – im Hier und Jetzt präsent; ein wenig wie die Körper der Hypnotisierten und Mesmerisierten in Poes Erzählungen "Mesmeric Revelation" (1844) und "The Facts in the Case of M. Valdemar" (1845), die Zustand der Hypnose quasi den eigenen Tod verschlafen und überdauern... Und Jacobs' Story ist wahrlich kein Einzelfall in der phantastischen Literatur: In Théophile Gautiers "Le pied de la momie" (1840) ist es der mumifizierte Fuß einer Prinzessin – und Gautier wurde bekanntlich ein gepflegter Fußfetisch nachgesagt –, welcher seinem Käufer eine wundersame Begebenheit beschert. Noch früher – in Balzacs "La peau de chagrin" (1831) – ist es die ledrige Rückenhaut eines Tieres, die einem Käufer als Talisman den Pakt mit dem Teufel einbringen wird (wobei Häute und Felle freilich nochmals einen ganz besonderen Fall der entwendeten Körperpartien darstellen). Und fast zeitgleich, in "La main enchantée" (1832), ließ Gérard de Nerval eine abgetrennte Hand als Talisman einer Teufelspakt-Erzählung dienen. Von solch französischen Hoffmanniaden ließe sich im Grunde eine Linie ziehen bis hin zum Transplantationshorror eines Maurice Renard und seines "Les Mains d'Orlac" (1920); hier ist die transplantierte Hand eines Toten der eher weltliche Draht ins Jenseits, der ein obskures Körpergedächtnis ins Spiel bringt: Und ein Pianist muss nach einem Unfall mit den Händen eines hingerichteten Mörders zurechtkommen, in denen der mörderische Drang noch immer zu sitzen scheint. Im Kino indes war solch eine Entwicklungslinie freilich passé; dort folgte auf "The Monkey's Paw" (1915) sogleich "Orlacs Hände" (1924) und auf selbigen "La main du diable" (1943) – über "Body Parts" (1991), "La peau de chagrin" (2010) und "Les mains de Roxana" (2012) bis heute...

Witch- & Ouija Boards:
In den 80er Jahren kam das verhängnisvolle Spiel – vor allem des Teenagers – mit dem Jenseits auf die großen Leinwände. Mit Witchboards und Planchetten, seit "The Oracle" (1985) oder "Witchboard" (1986) noch so etliche Male. Die Kommunikation mit dem Jenseits ist anfangs gruselig-spaßiger Zeitvertreib – doch das dabei versehentlich heraufbeschworene Unheil sollte man so schnell nicht wieder loswerden. Die Kommunikation erfolgt hier über die Nutzung eines spiritistischen, okkultistischen Hilfsmittels – das einerseits über die Sprache bzw. die Schrift eine Kommunikation im engeren Sinne ermöglicht, andererseits erst durch das Handauflegen der Nutzer(innen) seine Wirkung entfalten kann. In "The Oracle" ist die Planchette sogar eine – wenngleich künstliche – Hand mit Federkiel.

"Talk to Me" greift auf all dies zurück. Es ist ein Film, der überdeutlich auf die Tradition der Witch- und Ouija-Board-Horrorfilme zurückgreift – und sie mit den etwas morbideren Amputations-/Mumifizierungs-Talismanen aufmotzt, die schon per se etwas Horror mit sich bringen, auch wenn sich das Unheil erst einmal noch gar nicht entfaltet hat: Sie sind die toten Körper, die dennoch als pervertierte Talismane dem Milieu der Lebenden angehören, und so als Bindeglieder die Brücke schlagen. Aber "Talk to Me" macht mit dem Titel noch ein ganz anderes Fass auf: Die Kommunikation, den Wunsch nach Kommunikation ganz generell.
Die Handlung lässt sich schnell raffen: Am Jahrestag des Todes ihrer – wie sich zeigen wird durch eigene Hand gestorbenen – Mutter besucht die Schwarze Mia mit ihrer Freundin und deren Bruder eine etwas morbide Party von Freunden, bei denen im Grunde eine Séance stattfindet, die aber eher als Mordsgaudi die Basis für unterhaltsame Handyvideos abgeben soll. Ein(e) Freiwillige(r) greift eine blasse Hand, gewährt der Geisterwelt Einlass, muss aber das Tor vor Ablauf von 90 Sekunden wieder schließen, um selbige wieder loszuwerden. So sagen es sich jedenfalls die Besitzer(innen) der Hand, die weiter und weiter gereicht wird.[2] Mia meldet sich freiwillig; später auch der jüngere Bruder der Freundin... doch die Zeit wird überschritten, die Geister suchen Mia fortan zunehmend heim...
Aber natürlich geht es um etwas wesentlich Existentielleres. Es geht um die totale Kommunikationsunfähigkeit einer Gesellschaft, in der die Kommunikationstechnologie paradoxerweise vollständig ausgeufert ist. Gleich zu Beginn von Mias Einfführung bleibt ihr Vater überdeutlich undeutlich: Seine Worte fallen genau dann, wenn Mia an der Spüle das Wasser rauschen lässt; sein Körper befindet sich im unscharfen Hintergrund des Bildes. Eine starke Kluft zeigt sich schon hier; später wird man erfahren, dass der Vater seiner Tochter den Abschiedsbrief der Mutter vorenthalten hat. Ein Abschiedsbrief, der wie der Suizid nötig war, weil die notwendigen Worte im Leben zuvor nicht gefunden werden konnten. Und auch die Beziehung zwischen Freundin Jade, ihrem Bruder Riley und deren Mutter Sue wird weniger durch Aussprache, als vielmehr durch autoritäre Weisungen und kleine Sticheleien geprägt. Und anders, als man es vom Teenager-Horrorkino kennt, fügt sich hier keine Teenie- oder Twen-Gruppe "Final Destination"-mäßig zusammen, um dem Übel auf gen Grund zu gehen. Sondern man wird aneinander schuldig, macht sich Vorwürfe, sucht Ausflüchte... "Talk to Me" ist ein eisiger Film, trotz des australischen Schauplatzes. Die gerne thematisierte "soziale Vergletscherung" kommt hier als ausbleibende Kommunikation oder feindselige Kommunikation daher. Kommunikation findet häufig oberflächlich und augenfällig oft indirekt über die sozialen Medien und die moderne Kommunikationstechnologie statt: Erst ein Handyvideo führt Mia zur Séance, die tote Mutter kann mit einem Video erinnert werden, auf welchem sie mit Mia Online-Hatern Widerspruch entgegensetzt.
Das ist vermutlich die große Überraschung an "Talk to Me", dem Kinofilmdebüt von reichweitenstarken Videoplattform-Ikonen: dass sie überaus kritisch mit den neuen Medien ins Gericht gehen. Aber der Blick auf das Smartphone ist bloß eine Erscheinungsform der Suche nach etwas Wärme und Nähe, nach etwas Harmonie und Zuspruch. Da wäre naheliegenderweise der intime Körperkontakt selbst: Mia sehnt sich explizit nach körperlicher Nähe, Riley sucht nach erster Séance verängstigt Unterschlupf im Bett der Schwester, welcher harsch verwehrt wird, bzw. an Mias Seite, ohne dass man sich aneinanderschmiegen würde. Anschmiegen: Das machen indes die Toten, wenn sie nicht gleich in einen hineinfahren. Kaum das man ihnen über die Talisman-Hand einen anständigen Handgruß samt Einladung schenkt, lassen sie ihre Wirtskörper gehen, wobei sich der etwas vulgäre RackaRacka-Humor bemerkbar macht: Von einer dicklichen, älteren Frau besessen lutscht Mia an den Zehen ihres Exfreundes; selbiger schlabbert die Zunge vom Mops der Gastgeber bei einer Séance ab; Mia liegt in Löffelchen-Stellung im Schoß der toten Mutter. Die Flucht ins Smartphone ist da der nächste Schritt, wobei das Hater-Phänomen ebenso explizit wie randständig thematisiert wird wie auch das Phänomen der illegitimen Handyvideos, mit denen Mobbing in Gang gesetzt werden kann. Und dann ist da noch die Zuflucht ins Jenseitige (die bezeichnenderweise ein wenig der Flucht in den Drogenrausch gleicht): der Selbstmord ganz direkt natürlich, den auch einige der Besessenen auf erschreckend drastische Weise durchziehen; aber auch schon der Griff an die Talisman-Hand und die Kontaktaufnahme mit der Geistwelt, welche gerade für die unter dem Tod der Mutter leidende Teenagerin reizvoll erscheinen dürfte. Und man kann sich daran erinnern, dass die Séance gerade auch zu Zeiten der Toten des Ersten Weltkriegs einen erstaunlichen Boom erlebte. Was im Hier und Jetzt nicht zu bekommen ist, nicht zu bekommen zu sein scheint, wird im jenseitigen Sektor gesucht: Die Heilsversprechen der Religion arbeiten ebenso. In "Talk to Me" kommt Mia dabei ihrer Umwelt zunehmend mehr abhanden; zerstreitet sich mit der Mutter ihrer Freundin, wird mitschuldig am Schicksal des Bruders der Freundin, zerstreitet sich mit der Freundin, wird ihrem Vater zum Verhängnis... wird letztlich selbst zum heraufbeschworenen Geist, der sich an seine Wirtskörper klammert und sie mit sich zu reißen gedenkt.

"Talk to Me" ist wie gesagt ein eisiger Film: in kalten, tristen Farben, die mehr und mehr zu dominieren scheinen, derweil die warmen Töne bald bloß noch für schöne (wenngleich alsbald kippende) Erinnerungen da sind, kommt der Film daher, in dem ein bestürzendes gegenseitiges Zerfleischen, Bloßstellen und Ignorieren praktiziert wird, das einem Ingmar-Bergman-Film alle Ehre machen würde. Und die Philippous setzen dabei nicht ausschließlich auf Bilder, die creepy sind, auf drastische Schocks und abstoßende Vulgaritäten, sondern auch auf Schweigen, Einsamkeit, Leere, Tristesse; auf eine gemächliche Entschleunigung, welche die einen Teile des Publikums zu vergraulen weiß, derweil die abstoßenden Schocks den anderen Teilen zu schaffen machen.
Zurecht hat A24 sich hier den Vertrieb gesichert, wovon A24 und auch der Film und seine Crew (und der YouTube-Kanal) profitieren dürften. Zugleich ist dieser im Horrorfilmmilieu recht breitenwirksame Vertrieb auch ein Manko des Films, der somit in den großen Multiplexen zu großen Teilen ein in Sachen Geduld wie in Sachen Intellekt maßlos überfordertes Publikum anzieht, das dem bestürzenden Befund des Films unfreiwillig Recht gibt und sich im Kinosaal (ohne Rücksicht auf die Sitznachbar(inne)n) ins Smartphone flüchtet, wenn der Film das eigene Interesse nicht aufrecht erhalten kann.

8/10 für ein satirisches Horrordrama mit wirklich bösen Effekten, authentischen Figuren und bemerkenswert diversem Cast.


1.) Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard. Transcript 2006; S. 235.
2.) Mit dem Händereichen haben die Regisseure und ihre Autoren und Ideengeber(innen) ein Konzept gefunden, das auch aus der Geschichte des Aberglaubens gespeist wird:
"Geister dringen durch die Hände in die Menschen ein. Wenn man die H. einer sterbenden Hexe berührt, so muß man nach deren Tode sogleich in ihre Fußstapfen treten, d. h. gleichfalls hexen." (Hanns Bächtold-Stäubli, Eduard Hoffmann-Krayer (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Band 3. De Gruyter 1987; S. 1381)

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