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„In spätestens 48 Stunden sind wir alle tot!“

Der mittlerweile zweite Fall – der insgesamt 26. – des Rostocker „Polizeiruf 110“-Zweigs nach dem Ausscheiden Charly Hübners als Sascha Bukow führt Bukows Halbschwester Melly Böwe (Lina Beckmann) nach ihrem Gastauftritt in der vorausgegangenen Episode nun offiziell als Rostocker Ermittlerin an der Seite Katrin Königs (Anneke Kim Sarnau) ein. Benjamin Hessler schrieb dieses Kriminaldrama um einen Transmann, das von Regisseur Dustin Loose („Tatort: Der höllische Heinz“) inszeniert wurde. Seine Premiere feierte dieser Fall bereits am 1. September 2022 beim Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern, die TV-Erstausstrahlung folgte am 19. Februar 2023.

„Wir sind ‘ne ganz normale Familie!“

Transmann Daniel (Jonathan Perleth) ist erstmals eine Verabredung als Mann mit einer Frau eingegangen, der Lehrerin Nathalie (Lea Freund, „Zwischen uns die Mauer“). Nach dem gemeinsamen Besuch einer Bar trennen sich die Wege wieder, doch Nathalie wird von ihrem Nachsteller Marc Wigand (Max Krause, „Die Toten von Marnow“), einem alten Freund aus Kindheitstagen, abgepasst. Es kommt zum Streit, in dessen Verlauf er sie derart unglücklich umschubst, dass sie an ihren Kopfverletzungen noch am Tatort erliegt. Daniel sieht Marc noch davonfahren und wird damit zu einem wichtigen Zeugen, aber auch zum Hauptverdächtigen, ist er doch der Letzte, mit dem Nathalie lebend gesehen wurde. Fortan meidet Daniel jeden Kontakt zur Polizei und versucht, sich der auf Grundlage eines Phantombilds eingeleiteten Fahndung nach seiner Person zu entziehen, da er große Angst hat, dadurch geoutet werden zu würden. Bis auf seinen besten Freund Armin (Bernd Hölscher, „In einem Land, das es nicht mehr gibt“), einem bereits etwas älteren Transmann, und seine ehemalige Affäre Hanna (Alina Stiegler, „Sprich mit mir“) weiß niemand, dass er eigentlich Daniela heißt. Mit ihnen vereinbart er Stillschweigen, dem diese zähneknirschend zustimmen, doch die Polizei sucht fieberhaft nach ihm und sein innerer Konflikt droht ihn zu zerreißen…

Dass dieser „Polizeiruf 110“ mit Jonathan Perleth gedreht wurde, einem jungen, debütierenden Schauspieler, der auch in der Realität ein Transmann ist, sorgt im Verbund mit seiner darstellerischen Intensität und dem einfühlsamen Drehbuch für ein hohes Maß an Authentizität. Der Täter steht von vornherein fest, die Figur Daniel steht im Mittelpunkt dieses Falls. Man schafft Verständnis für Daniels schwierigen, von Dualismus, Rollen- und Versteckspiel geprägten Alltag und für seine Ängste, deren Ursachen sich nach und nach herauskristallisieren. Als ein Hauptproblem erweist sich seine Familie, die aus ihrem alleinstehenden Vater (Jörg Witte, „Der Ranger – Paradies Heimat“), dramatischerweise auch noch von Beruf Polizist, und einer 15-jährigen Schwester (Daria Wolf, „Six Minutes to Midnight“), die gerade ein Kind bekommen hat, besteht. Ihrem Vater ist es äußerst unangenehm, dass die minderjährige Tochter bereits Mutter geworden ist, und er ist mit dieser Situation heillos überfordert. Er ist um Normalität bemüht, die ausgerechnet Daniel(a) immer wieder herstellt, wenn sie Vater und Schwester beruhigt und sich liebevoll ums Neugeborene kümmert. Daniel(a) hat Sorge, dass sein/ihr gestresster Vater ein Outing nicht verkraften würde. Das gestörte Verhältnis zum Vater kulminiert gar in eine erschreckende visualisierte und erst etwas später als solche aufgelöste Gewaltfantasie.

Parallel dazu wird die horizontale Erzählebene fortgesetzt, indem Böwes Einstand eher miss- denn gelingt, da niemand ihre Kuchenbrötchen essen möchte, die miesepetrige und von Böwes Halbbruder jüngst sitzengelassene König sie als aufdringlich empfindet und die männlichen Kollegen über vermeintliche Stutenbissigkeit und Zickenkrieg feixen. Dennoch sucht Böwe immer wieder den kollegialen Kontakt zu König, was ebenso zum ein oder anderen humorigen Moment beim Aufeinandertreffen der gegensätzlichen Mentalitäten führt wie Böwes Naturell, das sie an keinem Süßgebäck ohne zuzugreifen vorbeigehen lässt. Dass ihre Zusammenarbeit trotzdem weitestgehend erfolgreich ist, ihr gemeinsamer Dienst also funktioniert, umschifft dabei gekonnt jeglichen männlichen Chauvinismus.

„Daniel A.“ ist auch ohne Whodunit? ein über weite Strecken hervorragend erzähltes Krimidrama, das spannende Einblicke sowohl in mögliche Konflikte von Transmenschen, die ihr Coming-out noch vor sich haben, als auch in den Themenkomplex unglückliche Liebe und Nachstellerei gewährt – interessanterweise droht Daniel sich nämlich in eine ähnliche Richtung wie der Täter zu entwickeln, da er seinen Stress mit seiner Begierde nach Hanna zu kompensieren versucht und sich in fixen, der Realität entrückten Ideen verliert. Hanna hat sich jedoch eindeutig zu ihrem Ehemann (Maximilian Kraus, „Das Leben ist kein Kindergarten“) bekannt. Diese Gemengelage führt zu einer etwas übertrieben und überkonstruiert anmutenden Zuspitzung im Finale, das letztlich aber mit einem unaufdringlichen und kitschfreien Plädoyer für Coming-outs im Sinne von „Steh dazu, was, wer und wie du bist“ und Akzeptanz schließt. Der Rostocker „Polizeiruf 110“ bleibt damit auch im Fall Nr. 2 nach Hübner ein Pflichttermin im deutschen Fernsehen.

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