Review

„Was soll ich mit einer Zärtlichkeit?“

Zwischen „Simon und die Wüste“ und „Die Milchstraße“ inszenierte der spanische Surrealismus-Pionier Luis Buñuel das in französisch-Italienischer Koproduktion entstandene Erotikdrama „Belle de jour – Schöne des Tages“, dessen Drehbuch er zusammen mit Jean-Claude Carrière verfasst hatte. Der auf dem gleichnamigen Roman Joseph Kessels aus dem Jahre 1928 (!) basierende Film wurde 1967 veröffentlicht und gilt als angesehenes Spätwerk Buñuels.

„Er ist pervers!“ – „Schlimmer als das...“


Seit einem Jahr ist Sévérine (Catherine Deneuve, „Ekel“) mit dem Chirurgen Pierre (Jean Sorel, „Sandra“) verheiratet, doch im Bett tut sich nichts, im Gegenteil: Sie schlafen sogar voneinander getrennt. Der Grund dafür sind Sévérines unerfüllte Neigungen, über die sie mit ihrem von ihr als zwar treu, zuverlässig und finanziell solide aufgestellt, aber eben auch langweilig empfundenen Mann jedoch auch nicht zu sprechen gedenkt. Stattdessen flüchtet sie sich immer wieder in entsprechende Tagträume, bis sie tagsüber in Madame Anais‘ Bordell unter falschem Namen als Prostituierte anfängt, wovon ihr Mann nichts ahnt – zumal sie auch stets rechtzeitig wieder zu Hause ist…

„Ich glaube, dir muss man erst mit dem Stock zureden, hm?“

Der ach so biedere Pierre lässt seine Frau am helllichten Tag unter freiem Himmel auspeitschen. Tatsächlich? Nein, es handelt sich lediglich um einen visualisierten Wunschtraum Sévérines. Dieses Spiel mit Traum/Fantasie und Realität ist das Hauptmarkenzeichen dieses Films, der seinem Publikum die Unterscheidung absichtlich erschwert, indem er beide Ebenen nicht deutlich voneinander abgrenzt, sich nur in Sévérines Kopf Abspielendes also nicht entsprechend markiert. Weshalb sich Sévérine in Anbetracht ihrer Neigungen überhaupt in eine solche Zweckehe begibt, wird nicht thematisiert; neben ihrer echten – nur eben nicht körperlichen – Zuneigung dürfte die finanzielle Absicherung durch Einheirat in die Bourgeoisie ihre Motivation gewesen sein. Gegen jene gesellschaftliche Schicht teilt Buñuel erwartungsgemäß wieder einige Seitenhiebe aus.

Vorsichtig tastet sich Sévérine an ihren neuen Beruf heran, kann sich aber schon bald in der Anonymität des Bordells, einer Art Parallelwelt, entfalten und ihre devoten Neigungen ausleben – auch wenn bereits ihr zweiter Freier eine Domina sucht. Ein japanischer Freier (Iska Khan, „Eddie krault nur kesse Katzen“) bringt ihr eine Art MacGuffin, über den Buñuel einen in einem unnötigen Anfall von Selbstzensur völlig im Unklaren lässt. Ärger bahnt sich jedoch an, als einer ihrer Freier, der Ganove Marcel (Pierre Clémenti, „Der Leopard“), sich in sie verliebt und zugleich ihre Anonymität gefährdet wird, als sie ein Bekannter (Michel Piccoli, „Das Mädchen und der Kommissar“) ihres Manns im Bordell entdeckt. Buñuel und Carrière lösen all diese Probleme durch einen überkonstruierten Handlungsverlauf, der u.a. Pierre in den Rollstuhl – hier sinnbildlich für „entmannt“ – bringen und Sévérine aus allen Verquickungen als Siegerin oder zumindest glückliche Nutznießerin hervorgehen lassen wird, gefolgt von einem Filmende, mit dem man offenbar noch etwas Verwirrung stiften wollte, von dem Buñuel aber wahrscheinlich selbst nicht wusste, was es bedeuten soll.

Catherine Deneuve sieht man in Reizwäsche, allerdings nur einmal von hinten gänzlich unbekleidet. Die Erotik in „Belle de Jour“ ist dezenter Natur, wobei die Kamera Sévérine gern voyeuristisch abtastet. Für das Jahr 1967, also kurz vor der sich auch im Kino überdeutlich bemerkbar machenden (und ausgenutzten) sexuellen Revolution, war das gewagt, wenngleich eine expressivere, die neuen Möglichkeiten der Freizügigkeit nutzenden Herangehensweise den Film womöglich ansprechender gemacht hätte – auf diese Weise jedenfalls wirkt er als Plädoyer gegen Verklemmtheit mitunter selbst noch ein bisschen verschüchtert. Dafür recherchierte man im Vorfeld offenbar gut und schuf mit diesem Film eine Art Portrait weiblichen Masochismus anhand eines exemplarischen Beispiel. Möglicherweise war eine, wie im Film angedeutet, Missbrauchserfahrung im Kindesalter damals wissenschaftlicher Stand bei der Erforschung der Ursachenfrage; wenn nicht, hätte man sich diese Szene besser geklemmt. Und das Plädoyer für Prostitution als tolle Möglichkeit für Frauen, zu ihrer sexuellen Identität zu finden, ist mindestens fragwürdig, scheint eher einer Männerfantasie entsprungen. Apropos: Visualisierte Fantasien und zusammenhanglos bis deutungsoffen erscheinende Szenen machen aus „Belle de Jour“ nicht gleich zu einer bewusstseinserweiternden surrealistischen Erfahrung.

Der Film zeichnet ein bigottes gesellschaftliches Umfeld, in dem es verständlich erscheint, dass Sévérine ihre Neigungen nicht offen auslebt, aber auch Sévérine als berechnende Frau, die offenbar ihr gemachtes Nest an der Seite ihres Mannes nicht verlieren will. Viel mehr erfährt man über sie leider nicht; Deneuve spielt eine weitestgehend eigenschaftslose An- und Ausziehpuppe in ständig wechselnden Kostümen, einen visuell hochstilisierten Spielball des Modeschöpfers Yves Saint Laurent. Eine weitergehende Charakterstudie wäre interessanter gewesen, hätte „Belle de Jour“ aber vermutlich auch viel seiner entrückten, nicht wirklich greifbaren Stimmung beraubt. In dieser finden sich surreale Spuren und Abstraktionen, die man wohl mögen muss, um den Film vollumfänglich genießen zu können.

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