„Ich will Sie nicht töten…“
Der für Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) 14., für Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) achte Dresdner „Tatort“ führt nach einem Drehbuch Stefanie Veiths und Jan Cronauers unter der Regie Gregory Kirchhoffs („Ostfriesisch für Anfänger“) in die Untiefen von Verschwörungserzählungen und daraus resultierender Gewalt. Die im August des Jahres 2021 gedrehte Episode wurde am 20. November 2022 erstausgestrahlt.
„Merken Sie eigentlich nicht, wie die Leute durch das Internet verblöden?!“
Seit ihm seine jugendliche Tochter Zoe (Alida Bohnen, „Wilsberg: Überwachen und belohnen“) aufgrund seines gewalttätigen Verhaltens abgehauen ist, ist Michael Sobotta (Hans Löw, „Der Sommer nach dem Abitur“) noch schlechter drauf. Er glaubt den Verschwörungserzählungen des Falschmeldungsportals „Grinsekatze“ im World Wide Web und somit auch, dass im Keller eines Dresdner Bistros 150 Kinder gefangen gehalten werden, darunter vermutlich seine Zoe. Er entführt die Reporterin Brigitte Burkhard (Elisabeth Baulitz, „Der Bergdoktor“) des unseriösen, reißerischen Revolverblatts „Flash“, zieht sich eine Mausmaske übers Gesicht und dreht ein Video, das er im Netz veröffentlicht. Darin stellt er ein Ultimatum: Innerhalb von 24 Stunden müssen die Kinder befreit werden, anderenfalls töte er Burkhard. Die Kommissarinnen Karin Gorniak, Leonie Winkler und deren Vorgesetzter Peter Michael Schnabel ermitteln auf Hochtouren, um Identität und Aufenthaltsort Sobottas ausfindig zu machen und das Leben der Geisel zu retten, kommen jedoch zu spät: Sobotta erschießt die Schmierenjournalistin vor laufender Kamera. Seine nächste Geisel wird ausgerechnet Schnabel…
„Polizei und Staat machen doch gemeinsame Sache mit diesen Leuten!“
Auch dieser „Tatort“ setzt sich kritisch mit einem aktuellen gesellschaftlichen Phänomen auseinander, in diesem Falle dem der schon länger nicht mehr witzigen Verschwörungserzählungen, die durchs Internet kolportiert werden, seit dieses jedem Deppen offensteht und mit einfachen technischen Mitteln mediale Beiträge produziert und weit verbreitet werden können. Schon längst resultieren daraus reale Gefahren, wenn manipulierbare Konsumentinnen und Konsumenten den Quatsch für voll nehmen und sich auf dieser Grundlage zu Gewalttaten bis hin zu Morden genötigt sehen. Einen solchen Typus Mensch verkörpert Sobotta, eindringlich und vollkommen humorfrei von Hans Löw dargestellt. Die „Grinsekatze“ (Paul Ahrens, „Polizeiruf 110: Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“) ist ein junger Bursche, der gegenüber der Polizei kaum einen Hehl daraus macht, in erster Linie kommerzielle Interessen zu verfolgen. Der Kinder-im-Bistro-Unfug ist abgeleitet vom Pizzagate, das Web-Forum „4π“, in das Sobotta seine Videos onlinestellt, ist natürlich an „4chan“ angelehnt und „Flash“ ist unschwer erkennbar das „Tatort“-Äquivalent zu den verkommenen Erzeugnissen des Springer-Konzerns.
„Das ist nicht meine Tochter.“
Der Prolog führt zunächst Burkhard ein, die bei einem fingierten Verkehrsunfall überfallen und entführt wird. Hübsche Bilder des abendlichen Dresdens werden im Vorspann abwechselnd mit an einer Wand angebrachten Kinderfotos und Zeitungsausschnitten gezeigt, wobei letzteres bereits filmtypische Hinweise auf einen Psycho sind. Täter- und Motivsuche sind lediglich seitens der Polizei Bestandteil dieses „Tatorts“, die Zuschauerinnen und Zuschauer genießen durch eine gleichberechtigte Aufteilung der Handlung auf die Polizei und den Täter einen entsprechenden Wissensvorsprung. Die Polizei wiederum hat nach Sichtung des Videos nur noch 16 Stunden Zeit, was gezwungenermaßen einiges an Tempo in die Dramaturgie bringt. Gorniak ermittelt in Kommentarspalten, wo abstruseste Theorien ausgetauscht werden, womit auch dieser Schreckensbereich des WWW abgehakt wäre. Herr Burkhard (Kai Ivo Baulitz, „Hit Mom – Mörderische Weihnachten“) pflegt ein sexuelles Verhältnis zu einem Mann, weshalb seine Frau die Scheidung will. Das macht ihn kurz ein bisschen verdächtig, dieser rote Hering wird jedoch schnell fallengelassen.
Die immer wieder eingeblendeten Kinderfotos stehen für ungeklärte Vermisstenfälle in Sachsen, 150 an der Zahl. Burkhard musste sogar deren Namen vorlesen, Sobotta stellte weitere Videos ins Netz. Die Koordinaten des Bistros, dem vermeintlichen Aufenthaltsort der Kinder, übermittelte er in Form von Lichtsignalen, doch als das SEK den Laden stürmt, befindet sich dort natürlich keines der Kinder. Wo diese denn nun alle sind, weshalb so viele Kinder verschwinden und die Aufklärungsquote derart gering ist, wäre möglicherweise sogar eine spannendere Frage als die nach den Überlebenschancen Schnabels gewesen – in jedem Falle eine relevantere –, doch wird diese leider nicht weiterverfolgt.
Sei’s drum, nun geht es um Schnabel – und vor allem darum, wie man einem Täter beikommt, der sich der Realität komplett verweigert. Sobotta ist unbelehr- und unberechenbar, die Realität passt er den Verschwörungen an, in die er sich verrannt hat, und glaubt nur denjenigen, die ihn darin bekräftigen. Rückblenden zeigen nun, was zwischen ihm und Tochter Zoe vorgefallen war. Gorniak und Winkler sind sich uneins hinsichtlich der weiteren Vorgehensweise. Immerhin bietet „Grinsekatze“ der Polizei seine Mithilfe an, sofern diese „Feuer mit Feuer“ zu bekämpfen bereit ist. Der Topos der Uneinigkeit zwischen beiden Kommissarinnen scheint ein neuer Dresdner Standard zu werden, führt hier jedenfalls zu einem Alleingang Winklers, der nicht ganz rund wirkt. Ohne zu viel verraten zu wollen, ist es doch erstaunlich, in welch kurzer Zeit da ein authentisch anmutendes Video inszeniert wird. Auch ein öffentlich gepostetes Video, das sich ausschließlich an Sobotta richtet, erzeugt eigenartigerweise keinen Flashmob Schaulustiger, sondern wird offenbar tatsächlich ausschließlich von Sobotta angeklickt. Dieser wiederum scheint auf seinen Ohren zu sitzen, wenn er die mit Abrissarbeiten beschäftigte Kommissarin partout nicht hört. Hier muss man starke Abstriche beim Realismus machen und dem Autorenteam Nachhilfe in Sachen Netzkultur nahelegen.
Davon einmal abgesehen, ist „Katz und Maus“ aber gute, an der Realität angelehnte und diese nicht bis zur Unkenntlichkeit abstrahierende Krimikost, die mit vielen schönen Panoramen Dresdens bei Dunkelheit etwas fürs Auge und mit einem hörenswerten Soundtrack auch etwas fürs Ohr bietet – und nicht zuletzt durch den Kniff, einen Sympathieträger in die Bredouille zu bringen, spannend unterhält. Der Showdown ist ebenfalls nicht von schlechten Eltern und überraschend hart ausgefallen. Die junge Alida Bohnen empfiehlt sich in ihrer zweiten TV-Rolle für weitere Engagements. 7/10 Klopfcodes dafür von meiner Seite. Und ohne die genannten Logikfehler wäre locker einer mehr drin gewesen.