Zurück in die wilden Weiten, wo Filmgeschichte einst begann. Denn Spektakel muss sich ausbreiten können. Land- und Himmelsmasse erschlagen mit ihrer endlosen Brennweite. Geeicht auf 150 Jahre Filmgeschichte möchte man sie intuitiv in ihrer Gesamtheit erschließen, nur weiß man beim besten Willen nicht, wo man ansetzen soll. Es werden ja schließlich kaum Bezugsobjekte da draußen geboten, und wenn doch, gestaltet es sich schwierig, auf sie zu fokussieren. Die Kameraführung zwingt die Blickrichtung nach oben, einmal quer von links nach rechts über die Leinwand und zurück, man fühlt sich wie eine Rakete im Wärmesensormodus. Man giert darauf, zwischen Staub, roten (oder etwa grünen?) Heringen und Wolken endlich das zu erfassen, was der süße Kern des Kinos ist.
Mit „Nope“ legt Jordan Peele die Metapher, sein liebstes Werkzeug zur Zerlegung gesellschaftlicher Zustände, zwar nicht gänzlich aus der Hand, er schneidet aber keine menschenförmigen Silhouetten mehr mit ihr aus, keine Doppelgänger oder Körperfresser. Diesmal sind es abstrakte, mit Blick auf das rechteckige Format der bewegten Fotografie sozusagen kubistische Ausschnitte, die sich als Irritation in die Szenenbilder stehlen. So gesehen ist die extrovertierte Hauptfigur Em (Keke Palmer) bei weitem nicht die Einzige, die Photobombing praktiziert, als sie in einer Szene mit ihrer neugierigen Art in ein Foto von Besuchern eines Themenparks platzt.
Nope, ist sie nicht. Ein vertikal in der Luft stehender Schuh mitten in einem Massaker auf dem Set einer Sitcom (fast schon wie eine Entsprechung des Kreisels aus „Inception“), seltsam sich verrenkende Gestalten in der Pferdescheune, der alieneske Kopf einer Gottesanbeterin vor der frisch installierten Außenkamera, der sich lüftende Schleier einer einsamen Besucherin einer Open-Air-Show oder auch die flatternden Tanzbewegungen der quer über das Gelände verteilten Tubemen... alles Ablenkungsmanöver, jedoch niemals Zaubertricks nur um des Effekts willen. Der Trailer, der sich hungrig auf diese Elemente stürzt und sie absichtlich entgegen ihrer wahren Gestalt einsetzt, ist in gewisser Weise diesmal nicht nur Marketing-Instrument, sondern Teil des eigentlichen Filmkörpers, sein ausgestreckter Fühler sozusagen.
Das Sehgefühl im Übrigen ist ein ganz anderes als noch bei „Wir“ oder „Get Out“. Die Hülle des Indie-Horrors ist abgestreift, nun haben wir es mit einem formlosen Ding zu tun, das sich bewegt und verhält wie ein Blockbuster und phonetisch dessen Sprache nachbildet, ohne tatsächlich selbst einer zu sein. Es steht schließlich immer noch Jordan Peele am Ruder, ein unangepasster Genre-Springer, der sogar im größeren Rahmen nichts so auflöst, wie man es auf den ersten Blick erwarten würde. Die Konditionierung des Publikums und die Regeln der Filmindustrie, die über Jahrzehnte wie Stalagmiten und Stalaktiten ihre Gestalt aneinander angepasst haben, werden immer wieder bewusst konterkariert. Ziel ist es, ein ganz eigenes Regelwerk durchzusetzen, es für diesen Organismus neu zu programmieren. Der spontane Ausruf „Nope“ bedeutet in diesem Kontext vor allem die Verweigerung von etablierten Filmklischees. Derer drängen sich so manche im Drehbuch auf, so verlockend wie der unweigerliche Blick auf den Schwerpunkt des Bildes. Der introvertierte zweite Lead, Ems Bruder Otis (Daniel Kaluuya), beißt aber nie an, was er dadurch signalisiert, dass er hin und wieder den Filmtitel in den Mund nimmt... nicht ohne damit den trockenen Humor aufblitzen zu lassen, der Peeles Schaffen bei allem Grauen von Anfang an durchzieht.
Während „Nope“ akribisch an der Erschaffung seines eigenen Regelwerks arbeitet, spielt er natürlich dennoch mit jenem seiner Vorbilder und Vorläufer, was ihn zu einem exquisiten Exemplar praktizierter Regelkunde für Genre-Handwerk geraten lässt. Während das Setting den epischen Vertretern des Westernfilms von Leone über Cimino bis Wyler Tribut zollt, orientiert sich der Spannungsaufbau an SciFi-Hybriden der 80er wie Carpenters „The Thing“ oder McTiernans „Predator“, in denen eine kleine Gruppe von Personen mit einer Normabweichung konfrontiert wird und erst nach und nach herausfindet, womit sie es eigentlich zu tun hat. M. Night Shyamalan, insbesondere dessen Invasionsfilm „Signs“, spendiert das schrullige Figurenrepertoire, das völlig inkompatibel mit der Außenwelt zu sein scheint und eigentlich nur innerhalb der eigenen Gemeinschaft zu großer Stärke reift – nicht nur die beiden Hauptfiguren sind hier einbezogen, sondern gerade auch Brandon Perea als anhänglicher Kameratechniker mit Überwachungsfaible sowie Michael Wincott als einsiedlerisch lebender Spezialfotograf. Um die eigentliche Auflösung der Mystery-Komponente wird zum Glück nicht so viel Wind gemacht wie in den Arbeiten Shyamalans oder wie eben auch in Peeles eigener Arbeit „Wir“, sie wird noch vor Beginn des Schlussdrittels aufgelöst und macht dann den Weg frei für die eigentliche Quintessenz von „Nope“: Das filmische Auge nämlich, die Linse der Kamera.
Wer das starrende Objekt steuert, das sich am Himmel hinter einer festen Wolke versteckt oder woher es stammt, sind keine Fragen, die Peele interessieren. Ihm geht es vielmehr um seine Beschaffenheit, seine Absichten und seinen Geltungsraum. Lange bevor das Geheimnis um den Flugkörper gelüftet wird, offenbart sich der selbstreferentielle Einschlag dieser Hollywood-Produktion als ihr Zentrum. Schließlich dreht sich die Handlung um ein Geschwisterpaar, das Pferde züchtet und diese für den Einsatz in Film- und Fernsehproduktionen trainiert. Wenn eines der Pferde mit Markierungskreuzen gespickt vor einer Green Screen im Studio steht oder später in einem Glaskasten Teil eines Showacts wird, muss man unweigerlich an die Pferdesequenz aus Tarsem Singhs artifiziellem Alptraum „The Cell“ denken. Die Ästhetik des Pferds wird praktisch seziert, seine Bewegungsabläufe werden ganz wie in Eadweard Muybridges Foto-Daumenkino „Animal Locomotion“ in ihre Bestandteile zerlegt. Im radikalen Kontrast dazu steht eine Sequenz bei Nacht, in der ein weißes Pferd namens „Ghost“ über den Zaun springt und galoppierend im Nichts verschwindet. Nicht umsonst dienen die Namen der Pferde auch der Strukturierung der Kapitel, ihre metaphorische Wirkung für die Widersprüchlichkeit von Kunst und Freiheit kostet Peele in vollen Zügen aus. Die Künstlichkeit, beziehungsweise der unzähmbare Drang des Künstlers wird in der Weite des Raums zum bedrohlichen Antagonisten, denn er verdrängt die Offenheit des Landes und sperrt Objekte in einen Schlauch, welcher sich am Ende, wiederum mindestens so metaphorisch wie biologisch zu verstehen, als Verdauungstrakt entpuppt. Das Design des unidentifizierten Flugobjekts steht in Verwandtschaft mit dem des Schiffs, das in Denis Villeuneuves „Arrival“ wie ein Monolith am Himmel stand, seine Natur allerdings unterscheidet sich radikal davon.
Als das Regelwerk dann irgendwann bis zur Vollendung definiert ist, gerät „Nope“ der äußeren Membran nach endlich zum täuschend echten Blockbuster-Imitat. Die digitalen Effektkünstler spielen nicht mehr länger Verstecken, sondern lassen ihre Muskeln spielen. Aufgewirbelter Staub ist abgesehen von der Leinwandfläche alles, was den Zuschauer noch von dem wabernden Spezialeffekt trennt, der in einzelnen Einstellungen nun das gesamte Bild ausfüllt, um darin assoziative Formen anzunehmen; von einer Blume, dem ausgelösten Blitzlicht der Kamera und nicht zuletzt dem Auge selbst. Wir können unsere eigenen Augen nicht von ihm nehmen, denn er selbst starrt mit hypnotischem Blick zurück. Vielleicht muss man nun sogar die „Truman Show“ in die Liste der Referenzen aufnehmen, denn hinter dem beschwichtigenden Blau des Himmels starrt ein aufmerksamer Beobachter. Am Rande nimmt man noch wahr, wie Keke Palmer mit Woo'schen Actioneinlagen auf stark geneigten Motorrädern das Heft in die Hand nimmt, um die Kreuzung der Blicke zu kappen, während Kaluuya als Stratege brilliert, mit kühlem Kopf die Leine des Drachens in der Hand hält und Kontrolle bewahrt. Das Leinwandpaar des Jahres ist womöglich schon gefunden, begegnet es den variantenreich gefilmten Attacken von oben (mal in der Nacht, mal bei Tageslicht, mal blutig, mal trocken wie ein Zaubertrick mit einer Münze, mal geräuschlos, dann wimmernd und wummernd mit der ganzen Kraft des Surround Sounds) doch mit einer unwiderstehlichen Mischung aus Natürlichkeit und Individualität, wie sie dem Blockbuster-Kino normalerweise nicht zu eigen ist. Bei einem Nebendarsteller wie Steven Yeun hat man sogar das Gefühl, dass das Skript seine Möglichkeiten nicht einmal mehr ganz ausschöpfen durfte, was aber lediglich die gewaltige Potenz dessen andeutet, was nun in der Fantasie des Betrachters zwischen den Zeilen leben darf. Denn seine Hintergrundgeschichte ist alleine schon aufgrund der in virtuosen Blickwinkeln und mit versiertem Schnitte arrangierten Sitcom-Sequenz so packend wie manch alleinstehender Film nicht.
„Nope“ ist in seiner Bildsprache also einerseits zugänglicher als die ersten beiden Arbeiten Jordan Peeles, andererseits in seinem Ausdruck aber vielschichtiger. Er ist konkreter in seinem Inhalt und doch vielseitiger interpretierbar in seinem Subtext. Ihm gelingt es wesentlich besser, die Regeln des Mainstream-Kinos zu absorbieren und für seine eigenen Zwecke zu nutzen, als etwa einem Robert Eggers, der in diesem Jahr mit „The Northman“ in Sachen Budget einen ähnlichen Sprung machen durfte, dabei aber lediglich seine eigenen Stärken und Schwächen maximierte. Peele hingegen entwickelt sich und seine Themen auf beeindruckende Weise weiter und bereichert sein eigenes Repertoire um weitere Facetten, ohne auch nur eine Spur von kreativen Ermüdungserscheinungen zu zeigen.