Als sich Mauro Bolognini 1972 der Thematik der Studentenproteste annahm, hatten die Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern des Staates, die eine große bürgerliche Mehrheit hinter sich wussten, und den meist jugendlichen Oppositionellen, längst unnachgiebige Züge angenommen. Während die Demonstranten als linke Chaoten eingestuft wurden, galten diesen die Bürger automatisch als Faschisten - nicht erstaunlich, dass konkrete Themen wie der Vietnam-Krieg oder die Lehr - Situation an den Universitäten nicht mehr konstruktiv erörtert werden konnten. „Imputazione di omicidio per uno studente” (Mordanklage gegen einen Studenten) schien, angesichts dieser Ereignisse, nicht mehr über die unmittelbare Aktualität zu verfügen, die die Filme auszeichneten, zu denen Ugo Pirro zuvor das Drehbuch schrieb.
Beginnend 1967 mit Elio Petris „A ciascuno il suo“ (Zwei Särge auf Bestellung), über Damiano Damianis „Il giorno della civetta“ (Der Tag der Eule) von 1969, und weiteren zwei Filmen von Elio Petri - „Ingadine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto“ (Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger) und „La classe oparaia va in paradiso“ (Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies)1970 und 1971 - , steht Bologninis Film über die Studentenproteste am Ende einer Reihe von höchst brisanten, jeweils von Pirro geschriebenen Polit-Filmen. Doch während Elio Petris und Damianis Film über mafiöse Strukturen in der Politik sehr pessimistisch angelegt waren, und sich Petris spätere Filme durch ihren beißenden, teils überzeichneten Blick auszeichneten, wirkt Bologninis Film aus heutiger Sicht unspektakulär und zurückhaltend. Selbst der historische Film „Il Giardino dei Finzi Contini“ (Im Garten der Finzi Contini), den Pirro gemeinsam mit Vittorio De Sica zwischen den Petri-Filmen entwarf, schien in seiner Gesellschaftskritik relevanter, weshalb „Imputazione di omicidio per uno studente”, der auch als einziger der zuvor genannten Filme keinen Preis gewann, bis heute nahezu unbekannt blieb.
Bei Analyse der inszenatorischen Anlage, verbunden mit den zeitlichen Umständen während der Entstehungszeit des Films, wird das nachvollziehbar, ist aber nichtsdestotrotz ungerechtfertigt, denn Pirro und Bolognini wagten etwas für ihre Zeit Ungeheuerliches – einen objektiven, bewusst ausgewogenen Blick auf eine Situation, die nicht nur deutlich stärker im Focus der Bevölkerung stand, als die politischen Themen der anderen Filme, sondern ausschließlich von extremen Haltungen begleitet war. Nur zu Beginn verwendet „Imputazione di omicidio per uno studente” typische Bilder, als er die Eskalation eines Studentenprotests zeigt, der in eine tödliche Auseinandersetzung zwischen der Polizei und den Studenten mündet. Am Ende gibt es zwei Tote – einen erschossenen Studenten und einen erschlagenen Polizisten – aber keinen Moment lässt der Film den Eindruck von Vorsatz entstehen. Der junge Architekturstudent Fabio Sola (Massimo Ranieri) hatte, nachdem er ansehen musste, wie sein Kommilitone starb, im Affekt einen Schlagring genommen und blind auf einen Polizisten eingeschlagen, aber auch die tödliche Kugel war zuvor nicht gezielt abgegeben worden.
Nach diesen ersten – von Ennio Morricones großartiger Musik begleiteten – Szenen, verbleibt der Film über seine gesamte Laufzeit in einem ruhigen, sehr gesprächsintensiven Modus, der auf jede Action oder zugespitzte Momente verzichtet und trotzdem jederzeit spannend bleibt. Pirro und Bolognini konzentrieren sich auf einen Vater – Sohn – Konflikt, der vor allem von Martin Balsam getragen wird, der nicht nur als ermittelnder Richter Aldo Sola agiert, sondern im Besonderen als Fabios Vater. Es wird offensichtlich, dass dieser Mikrokosmos – frei von den üblichen Vorurteilen - stellvertretend für den Generationskonflikt stehen sollte. Sowohl Balsam als auch Ranieri gelingt es überzeugend, ihre Zugehörigkeit zur jeweiligen Gesellschaftsgruppe zu unterstreichen, ohne bei ihrer Auseinandersetzung in übertriebene Aggression oder Anbiederung zu verfallen.
Auch ihr jeweiliger Hintergrund ist ähnlich differenziert gestaltet. Zwar wurde mit Massimiliano Trotti (Luigi Diberti) ein Student festgenommen und des Mordes an dem Polizisten angeklagt, aber als Richter Sola professionell beginnt, die Ermittlungen der Polizei zu hinterfragen, werden Aggressionen innerhalb der Truppe spürbar. Einen Moment keimt der Eindruck auf, es könnte für den Richter gefährlich werden – wie oft im italienischen Polit-Thriller – aber an Verschwörungen hat der Film kein Interesse. Im Gegenteil wird dem ehrgeizigen und aus seiner Abneigung gegenüber den Studenten kein Geheimnis machenden Commissario Cottone (Pino Colizzi), der zunehmend in Verdacht gerät, selbst geschossen zu haben, der gemäßigte ältere Commissario Malacarne (Turi Ferro) gegenüber gestellt, der diesen mehrfach in die Schranken weist. Immer bleibt die Polizeiarbeit in einem Gleichgewicht zwischen Wut auf die Studenten und dem gesteigerten Interesse, schnell einen Schuldigen zu präsentieren, und einer möglichst objektiven Ermittlungsarbeit.
Auch bei den Studenten verzichtet Bolognini nicht darauf, deren taktisches Kalkül zu beschreiben. Als Fabio sich stellen will, hindern ihn die anderen Studenten daran. Für sie ist es ein Vorteil, dass ein tatsächlich Unschuldiger hinter Gittern sitzt, denn so können sie die Staatsmacht überzeugender angreifen, während ein geständiger „Mörder“ nur ein gefundenes Fressen für die Presse wäre, die Studentenproteste als verbrecherisch hinzustellen. Neben dieser Vorgehensweise, wird aber auch immer ihr friedliches, von einer klaren linkspolitischen Haltung geprägtes Engagement offensichtlich, dass sie antreibt. Auch die Darstellung von Wohngemeinschaften und die Andeutung einer freieren Sexualität bleiben ohne jeden sensationsgierigen Blick. Selbst die Gefühle, die Fabio für Carla (Petra Pauly) hegt, werden nicht instrumentalisiert, sondern bleiben eine Randerscheinung.
Durch diesen bewussten Verzicht auf Polemik und eine vordergründige Sympathiebekundung, erntete der Film nicht nur keine Zustimmung von irgendeiner politischen Seite, sondern setzte sich zudem dem Verdacht aus, keine Stellung zu beziehen, was sich noch durch die scheinbare Unentschiedenheit des Endes bekräftigen ließe. Doch tatsächlich bewies der Film Mut, indem er die Thematik von üblicher Ideologie befreite und sich auf den Generationskonflikt konzentrierte, der nach der Phase des Wiederaufbaus nach dem 2.Weltkrieg kommen musste und der letztlich der Auslöser für die Proteste wurde. Es ist auch falsch, dem Film keine klare Haltung zu unterstellen, nur weil er von politischen Statements absah. Im Gegenteil versuchte er sich damit nur, den üblichen ideologischen Verdächtigungen zu entziehen, aber aus seiner Haltung, dass sich die Gesellschaft verändern muss, machte er kein Geheimnis (8,5/10).