Seit "Divorzio all'italiana" (Scheidung auf Italienisch, 1961) waren drei Jahre vergangen. Pietro Germis Angriff auf die Doppelmoral seines Heimatlandes, das Ehescheidungen verbot, aber kein Problem mit Ehrenmorden hat, war großer Erfolg beschieden - er gewann sogar den "Oscar für das beste Originaldrehbuch". Darin hatte Germi sein süßes Gift versprüht und ließ den Betrachter Anteil haben an den Gefühlen eines verliebten Mannes für die hübsche junge Frau von Gegenüber - ein schönes Paar. Wer hatte nicht Verständnis dafür, dass die wenig attraktive, etwas geschwätzige Ehefrau im Weg stand? - Scheidung war nicht möglich, aber es fand sich eine Alternative. Trotz des bösartigen Subtexts bereitet der aus der subjektiven Sicht des von Marcello Mastroianni gespielten Liebhabers geschilderte Film großes Vergnügen und wurde zum Namensgeber der "Commedia all'italiana", unter deren komödiantischer Oberfläche sich reale Abgründe verbargen.
Drei Jahre waren seitdem vergangen, die Modernisierung der Gesellschaft nach dem Krieg schritt voran, aber in den Köpfen hatte sich nichts geändert. Die alten patriarchalischen Strukturen galten nach wie vor und damit eine von der Kirche und einem strengen Ehren-Kodex bestimmte Moral. Erneut griff Germi dieses Thema auf, siedelte die Handlung wieder auf Sizilien an, dessen Archaik die allgemein geltenden Moralvorstellungen noch zuspitzte, und besetzte Stefania Sandrelli wieder als Objekt der Begierde - eine junge, filigrane Schönheit unter einer drallen weiblichen Dorfjugend. Der deutsche Verleih unterstützte diesen Eindruck von Kontinuität mit dem Titel "Verführung auf Italienisch", damit die tatsächliche Bedeutung "Verführt und im Stich gelassen" ignorierend. Doch es half nicht. "Sedotta e abbandonata" erhielt in Italien zwar ähnlich viele Auszeichnungen wie sein Vorgänger, aber international blieb ihm die Anerkennung verwehrt. Anders als "Divorzio all'italiana" schaffte er es in Deutschland nicht einmal ins TV- Programm und blieb hierzulande nahezu unbekannt.
Hartnäckig hält sich zudem das Vorurteil, Germi hätte sein Rezept aus „Divorzio all’italiana“ wieder aufgewärmt, weshalb der Nachfolger in dessen Schatten verblieb. Tatsächlich haben beide Filme bis auf die genannten äußerlichen Parameter wenig gemein. Erstmals schrieb Germi mit Agenor Incrocci (Age) und Furio Scarpelli das Drehbuch, die in Zusammenarbeit mit den Regisseuren Steno und Mario Monicelli stilbildend für die „Commedia allìtaliana“ in den 50er Jahren wurden. Eine Erfahrung, die Germi in seinem folgenden Film "Signore & signori" (Aber, aber, meine Herren…, 1966) noch einmal wiederholte. Entsprechend unterschiedlich wurde der Gestus beider Filme - "Sedotta e abbandonata" ist direkter, gnadenloser und nervenaufreibender. Entfaltete der Vorgänger seinen perfiden Mord-Plan unterschwellig im Stil eines Plädoyers, das seine Zuhörer schon überzeugt hat, bevor es auf den Punkt kommt, geschieht hier nichts verklausuliert.
Schon während der Credits zu Beginn lässt der Sänger, der Agnese (Stefania Sandrelli) aus dem Off auf ihrem Weg zur Beichte begleitet, keinen Zweifel am katastrophalen Geschehen. Die 15jährige wurde von dem Verlobten ihrer Schwester Matilde (Paola Biggio) verführt – eine doppelte Schande für beide Frauen, die auf die gesamte Familie zurückfällt. Die Art der Inszenierung dieser Eingangssequenz lässt am drastischen Inhalt des Films keinen Zweifel. Drückende Hitze liegt auf den schwitzenden Leibern, die erschöpft auf ihren stählernen Betten liegen inmitten des karg eingerichteten Steinhauses. Peppino Califano (Aldo Puglisi), zu Besuch bei der Familie seiner Verlobten, nutzt die Situation, um sich deren hübscheren und jüngeren Schwester Agnese zu nähern, die schreibend am Tisch sitzt. Sie wehrt sich einen Moment, kann sich aber der körperlichen Versuchung nicht entziehen. Mit einer romantischen Beziehung, wie sie Germi in „Divorzio all’italiana“ zumindest vorgaukelte, hat das nichts zu tun. Peppino Califano ist kein Bonvivant wie der darin von Mastroianni verkörperte Baron, sondern ein schmächtiges Bürschchen mit schmalem Oberlippenbart, der auf eine Beamtenstellung hofft.
Für einen solchen Typen, eher die Karikatur eines „Latin Lovers“, müsste eine Frau wie Agnese ein Hauptgewinn sein. Doch weit gefehlt – er weigert sich, sie zu heiraten, da für ihn nur eine Jungfrau in Frage käme. Dass er selbst dafür verantwortlich war, spielt keine Rolle. Don Vincenzo Ascalone (Saro Urzi) hatte deshalb von dem Verführer gefordert, seine Tochter Agnese zu heiraten, nicht ohne zuvor Matilde mit dem Baron Rizieri Zappalà (Leopoldo Trieste) verlobt zu haben – mit der offiziellen Begründung, dass sie nichts mehr von ihrem bisherigen Verlobten wissen will. Die Figur des Barons spielte ironisch auf den von Mastroianni verkörperten Adeligen in „Divorzia all’italiana“ an, der nur noch von den Resten früherer Herrlichkeit lebte. Dem Baron in "Sedotta e abbandonata" ist nicht einmal mehr das geblieben. In seinem vollständig leergeräumten Palazzo versucht er sich gerade das Leben zu nehmen, als Vincenzo Ascalone ihm das Angebot macht, seine Tochter Matilde zu heiraten. Ein Angebot, dem der zahnlose Baron nicht widerstehen kann - allein, damit er endlich wieder eine warme Mahlzeit bekommt.
Germi zeichnete das Bild einer Männerwelt, deren eigene Frauen jungfräulich sein müssen, die selbst aber nichts anbrennen lassen – ein klassisches Motiv der Erotikkomödie der 70er Jahre, in dem der Protagonist entweder mit einer erfahrenen Frau Sex hat oder ins Bordell geht. Im Anblick dreier Prostituierten, die auffällig durch den Ort in Richtung Hotel spazieren, schwadroniert Don Ascalone über die Bedürfnisse des Mannes von 18 bis 60 Jahren - natürlich 365 Tage im Jahr - während sein zukünftiger Schwiegersohn nichts eiligeres zu tun hat, als sich von seiner Mutter Geld zu leihen, um damit zum Hotel zu laufen. Moral ist etwas für Frauen. Männer achten darauf, dass sie sich daran halten. Sonst droht ihnen Ehrverlust – die schlimmste aller Konsequenzen. Weil Peppino sich der für ihn ehrlosen Heirat mit Agnese durch Flucht entziehen will, setzt deren Vater seinen einzigen Sohn Antonio (Lando Buzzanca) auf ihn an, um ihn zu töten. Nur so kann die Familienehre gewahrt bleiben. Eine frühe Paraderolle für Lando Buzzanca als unsicherer Rächer, den auch die Aussicht auf nur fünf Jahre Gefängnis nicht trösten kann. Nicht einmal der Ehrenmord klappt in "Sedotta e abbandonata".
Der Humor, wenn man von Humor sprechen möchte, entsteht aus dem Chaos, das das zunehmend zum Nervenbündel mutierende, großartig von Saro Urzi gespielte Familienoberhaupt um sich entfacht, um einen Ausweg aus der Katastrophe zu finden. Doch als Identifikationsfigur eignet er sich ebenso wenig, wie jeder andere in diesem verlogenen Spiel. Germis Angriff auf die gesellschaftliche Doppelmoral mit ihren veralteten Geschlechterrollen erfolgte hier ohne Gnade. Und ohne ironische Anspielungen oder unterschwellige Andeutungen wie noch in „Divorzio all’italiana“, der - wenn auch zu Unrecht - häufig im Zusammenhang mit den folkloristischen Sophia-Loren-Komödien dieser Zeit genannt wird. Eine Gefahr, die hier nicht besteht, weshalb "Sedotta e abbandonata", das die Grenze zwischen Komödie, Farce und Drama sehr schmal auslegte, schnell in Vergessenheit geriet. Schlimmer hätte die Geschichte für alle Beteiligten kaum ausgehen können. Und ist doch ein Happy-End, denn die Familienehre wurde gerettet. (9/10)