Spätestens mit „Spider-Man: No Way Home“ ist die Multiversum-Thematik endgültig im Marvel Cinematic Universe angekommen. Und wer böte sich besser als potenzieller Wanderer zwischen den Welten an als der titelgebende Magier in „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“?
Wobei es vorerst nicht der frühere Chirurg und jetzige Superheld Doctor Stephen Strange (Benedict Cumberbatch) ist, der die Grenzen zwischen den Universen überschreiten kann, sondern die junge America Chavez (Xochitl Gomez), die ihre Kräfte allerdings nicht kontrollieren kann. Genau deshalb will ihr eine Doctor-Strange-Inkarnation in einem Universum die Kräfte nehmen, doch den Doc überwältigt ein Tentakelmonster, das hinter America her ist. Davon kriegt der Doctor Strange in unserer Realität nichts mit. Der hat damit zu knabbern, dass seine große Liebe Dr. Christine Palmer (Rachel McAdams) während seines fünfjährigen Verschwindens aufgrund des Blip (siehe „Avengers: Infinity War“ und „Avengers: Endgame“) einen anderen Mann kennengelernt hat und diesen nun ehelicht.
In die Hochzeitszeremonie in New York platzen jedoch America und das Tentakelmonster, das sie verfolgt und von Strange und seinem Kompagnon Wong (Benedict Wong) erst einmal fachgerecht zur Strecke gebracht werden muss. Sie erfahren, dass jemand hinter America und ihren Kräften hier ist, um das Multiversum kontrollieren zu können. Dort gibt es unendlich viele Varianten jedes Menschen – nur America, die gibt es nur einmal. Allerdings bleibt diese den Film auch eine Art lebender MacGuffin, erhält kaum ein wirkliches Eigenleben, auch wenn man ihr eine Hintergrundgeschichte mit verschwundenen Müttern andichtet, die sie versehentlich ins Multiversum schickte.
Als sich herausstellt, wer hinter den Angriffen auf America steckt, ist es fast schon zu spät: Das Kamar-Taj wird überrannt, die Gegenwehr seiner Verteidiger gebrochen, weshalb Strange und America nur ins Multiversum fliehen können. Dort müssen sie sich in neuen Welten zurechtfinden, haben aber immer noch die Verfolger im Nacken…
Die Multiversum-Thematik ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ermöglicht sie interessante Gedankenspiele, andrerseits stößt sie das Tor für eine gewisse Beliebigkeit auf, wenn Figuren, die in einem Universum tot sind, in einem anderen noch am Leben sein können. „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ versucht da gleich gegenzusteuern. Zum einen werden die Gefahren der Reisen durchs Multiversum angesprochen, weshalb sie vermieden werden sollten und manche Akteure in Strange und seiner Schutzbefohlenen eine ähnlich große Gefahr sehen wie in ihren Verfolgern. Eine Anything-Goes-Haltung im MCU soll vermieden werden. Zum anderen deutet der Film an, dass bei einer aller Variation eine gewisse Schicksalhaftigkeit vorherrscht: Strange ist in quasi jedem Universum ein Superheld geworden, nicht Chirurg geblieben oder einer anderen Tätigkeit nachgegangen. So wie er feststellen muss, dass er in jedem Universum in Christine verliebt ist. Allzu viele Universen sieht man trotz des Filmtitels nicht. Ein Schnelltrip durch verschiedene davon ist eher eine Montage, die mit Stilen und Inszenierungsstrategien spielt, etwa wenn Strange und America kurz als gezeichnete Figuren auftreten, aber letztendlich sind es nur drei oder vier Universen, die länger bereist werden.
So bleibt der Film trotz des Multiversum-Ansatzes eine relativ geradlinige Hatz durch verschiedene Welt, bei der sich das Drehbuch gelegentlich etwas verrenken muss, neue Zaubersprüche, Artefakte und Multiversum-Regeln aus dem Hut ziehen, um den Motor am Laufen zu halten. So wirkt es gelegentlich etwas willkürlich, was diese oder jene Figur nun kann oder nicht, wie man einen Widersacher (temporär) aufhalten kann usw. Allerdings drückt Sam Raimi bei alledem ordentlich auf die Tube, um eventuelle Unstimmigkeiten durch ein hohes Temo zu übertünchen. Gelegentlich kommentieren Film und Figuren die Vertracktheit der Multiversum-Logik selbst. Es gibt einige Gags, wobei Doctor Strange zahmer und weniger sarkastisch als in seinem ersten Film rüberkommt.
Wanda Maximoff (Elizabeth Olsen) wird zu einer zweiten wichtigen Hauptfigur, denn „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ greift die Geschehnisse der TV-Serie „WandaVision“ auf und führt sie weiter. Hinzu kommen weitere Anspielungen auf vergangene Geschehnisse und ein Haufen Insidergags. Gerade eine Begegnung mit lauter Gaststars in einem der verschiedenen Universen spielt nicht nur ein amüsantes „Was wäre wenn“-Szenario mit Marvel-Helden wie Captain Marvel oder Captain America, sondern bietet Raum für Anbindungen, nachdem sich Disney Fox und damit auch die Marvel-Lizenzen, die bisher dort lagen, einverleibte. Immerhin bemüht sich „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ darum, dass diese Auftritte über einen reinen Gimmick-Charakter hinauskommen, indem diese sich auch viel um die Multiversum-Thematik und die erwähnten Gefahren des Crossovers zwischen den Welten drehen.
Gleichzeitig ist das „Doctor Strange“-Sequel ein eindeutiger Sam-Raimi-Film. Zwar ohne den Gewaltgrad der „Tanz der Teufel“-Filme, aber mit wesentlich mehr Horroranteil als andere Marvel-Filme oder auch Raimis „Spider-Man“-Trilogie. So gibt es unter anderem einen untoten Zombie-Strange, die Seelen der Verdammten und einige relativ derbe Todesszenen zu bestaunen. Auch das Tentakelmonster und der Verlust dessen einen Auges beim Kampf in New York sind klarer Raimi-Stil, ebenso wie die wilden Kamerafahrten und der obligatorische Gastauftritt von Bruce Campbell. Campbells Cameo als Hot-Dog-Verkäufer zitiert später sogar „Tanz der Teufel 2“, genauer gesagt Ashs Kampf mit der eigenen, abspenstigen Hand.
Da die meisten Beteiligten hier des Zauberns mächtig sind, fallen die Actionszenen ins eher effekt- und CGI-lastige Spektrum, auch für Comic- und Superheldenverhältnisse. Sam Raimi kontert diese Tatsache mit einer paar einfallsreichen Ideen, etwa einem Fight zwischen zwei Doctor Stranges, in dem Musik gespielt und Noten als magische Geschosse abgefeuert werden, oder einer Kampfszene, in der die Seelen der Verdammten in einen Konflikt eingreifen. Hinzu kommen einige starke Bilderwelten, in denen „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ bisweilen wie ein filmgewordenes M.C.-Escher-Gemälde wirkt. Aber natürlich lässt ein Film, in dem fliegende Superwesen einander mit Energiebällen beschießen, Dimensionsportale öffnen oder magische Helferwesen beschwören, etwas an Bodenständigkeit und klassischer Stuntarbeit missen, was allerdings bei einer Figur wie dem titelgebenden Doctor wohl auch dazu gehört.
Diesen verkörpert Benedict Cumberbatch erneut souverän als abgehobenen Kompetenzprotz, hinter dessen sarkastisch-überheblicher Fassade auch eine gewisse Verletzlichkeit steckt, wodurch Strange im Sequel etwas nahbarer als bei früheren Leinwandauftritten wirkt. Rachel MccAdams und Chiwetel Ejiofor dürfen zwar verschiedene Inkarnationen ihrer Figuren spielen, wirken aber klar wie zweite Geigen, während Benedict Wong mal wieder als verantwortungsbewusste, zupackende Stimme der Vernunft punktet. Die stärkste Präsenz neben Cumberbatch hat in diesem Film allerdings Elizabeth Olsen, die als versehrte, Strange gar nicht so unähnliche Seele eine eindrucksvolle Leistung abliefert. Gelungen auch der Auftritt von Newcomerin Xochitl Gomez, die aber noch etwas hinter den Stars verschwindet. Michael Stuhlbarg hat eine noch kleinere Rolle als im Vorgänger, weitere MCU-Darsteller wie Hayley Atwell haben Gastauftritte, während der Rest der Belegschaft kaum der Rede wert ist – die Hauptdarsteller spielen oft eher mit anderen Inkarnationen ihrer selbst als mit nennenswerten Nebenfiguren zusammen.
„Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ ist ein eindeutiger Sam-Raimi-Film, der die Handschrift seines Regisseurs wohl noch deutlicher trägt als seine „Spider-Man“-Teile. Mit visuellem Einfallsreichtum und hohem Tempo inszeniert er eine fetzige Hatz durchs Multiversum, deren Plot etwas dünn und deren Action etwas abgehoben ist, was aber durch interessante Gedankenspiele, viele Schauwerte und ein paar Gags ausgeglichen. Sicher, angesichts der Titel hätte das „Doctor Strange“-Sequel noch etwas verrückter ausfallen dürfen, aber spritziger als der relativ standardisierte Origin-Story-Film des Doctors fällt die Fortsetzung aus.