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„Nimm's nicht persönlich.“

Die erste Rostocker „Polizeiruf 110“-Episode nach Charly Hübners Ausstieg – bisher als Kommissar Bukow der Partner an Kommissarin Königs (Anneke Kim Sarnau) Seite – wurde am 24. April 2022 erstausgestrahlt. Als Regisseur trat erstmals Stefan Krohmer („Eine fremde Tochter“) innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimirehe in Erscheinung, der ein Drehbuch des „Polizeiruf“-erfahrenen Autors Florian Oeller inszenierte. Bereits vor den Pressevorführungen war bekanntgegeben worden, dass Hübners Ehefrau Lina Beckmann („Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“) als Kommissarin und Bukows Halbschwester Melly Böwe zukünftig an Königs Seite ermitteln werde.

„Find dich damit ab!“

Ein Jugendlicher (Alessandro Schuster, Dresdner „Tatort“) irrt nachts auf einsamen Landstraßen im Rostocker Einzugsgebiet umher, in seiner Hand ein Messer. Ein Autofahrer stoppt und überredet ihn einzusteigen. Während der Fahrt beginnt der Fahrer sich sexuell zu stimulieren, woraufhin der Jugendliche ihm mit seinem Messer in den Oberschenkel sticht und so zum Anhalten zwingt. Der Messerstecher läuft weg. Am nächsten Tag werden in einem vermeintlich idyllischen Rostocker Vorort eine alleinerziehende Mutter und ihr gelähmter jugendlicher Sohn tot aufgefunden: Sie wurde erstochen, ihr Sohn erlitt einen Schlaganfall, weil seine Infusion nicht mehr gewechselt wurde. Der durch die Nacht irrende, mit einem Messer bewaffnete Junge stellt sich als Max heraus, ausgestiegener Sohn eines Mafiaclans, der unter Zeugenschutz steht und als Pflegekind zusammen mit seiner Pflegeschwester Emma bei Jule (Susanne Bormann, „Fleisch ist mein Gemüse“) und Holger Genth (Jörn Knebel, „Nord bei Nordwest“) lebt – den Nachbarn der Toten. Aufgrund des Zeugenschutzes tritt die Bochumer Kommissarin Melly Böwe auf den Plan, die einst Max unter ihren Fittichen hatte, bevor er schwer drogenabhängig wurde. Die eigentlich auf diesen Fall angesetzt Kommissarin Katrin König muss sich wohl oder übel mit Böwe, der Halbschwester ihres untergetauchten Partners und Geliebten Bukow, arrangieren. Allem Anschein nach ist Max der Täter. Was trieb ihn dazu – und wo steckt er? Die Kommissarinnen versuchen Antworten bei Jens Sommer, dem Ex-Mann der Toten, bei Familie Genth sowie bei den zahlreichen Liebhabern der promiskuitiv gelebt habenden Toten zu finden. Königs Vorgesetzter Röder (Uwe Preuss) versucht derweil, Katrin König dazu zu überreden, die Karriereleiter zur Teamleiterin hochzusteigen…

Wer nun glaubt, der Neuanfang im Rostocker „Polizeiruf 110“ ginge mit ausgeprägter Stutenbissigkeit einher, irrt: Natürlich ist König zunächst nicht sonderlich erfreut, dass die zuvor im Fall „Sabine“ eingeführte Böwe plötzlich auftaucht und sich in ihre Arbeit einmischt, doch Drehbuch und Inszenierung nutzen die Situation, um zwei unterschiedliche Frauen zu charakterisieren und zu zeigen, wie sie sich zusammenraufen und erfolgreich zusammenarbeiten. Dieses Klischee wird also umschifft. Ferner bewegt man sich in dieser Episode weg vom Urbanen und verlagert den Schauplatz in die Welt der Einfamilienhäuser, hinter deren Fassade es in dysfunktionalen Familien brodelt und Überforderung an der Tagesordnung ist. Eine Vielzahl an Figuren wird eingeführt, die dem Publikum die Sorge bereiten könnten, der Handlung nicht mehr folgen zu können, doch entspannte und geduldige Zuschauer(innen) werden belohnt: Es wird sich alles stimmig zusammenfügen und übermäßige Konzentration ist nicht erforderlich.

Der Fokus liegt dabei grundsätzlich auf Max, wenngleich er auch immer wieder aus dem Auge gelassen wird, um sowohl die horizontale, episodenübergreifende Handlung weiterzuerzählen als auch den Toten ein Gesicht zu geben und Max‘ Pflegefamilienverhältnisse aufzuarbeiten. Die erwachsenen männlichen Protagonisten nehmen dabei keine allzu rühmlichen Rollen ein, sondern müssen sich und der Polizei ihre Schwächen eingestehen. Was mancher für verurteilungswürdig halten würde, erscheint mir viel mehr hilflos und, ja: ehrlich. Neben gravierenden (Patchwork-)familiären Problemen werden Themenbereiche wie Entwurzelung, Behinderung, Sterbehilfe, Einsiedlertum, wohltuende/funktionale Zweckgemeinschaften und Sexualität angeschnitten, um im letzten Drittel die Perspektive von Pflegekindern noch einmal zu betonen und mit einer überraschenden Wendung aufzuwarten.

Die bedrückende Stimmung und das gezeigte Elend werden durch ein wenig Humor aufgelockert, allem voran während der Befragungen der zahlreichen Liebhaber der Toten. Obwohl „Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“ lange Zeit mehr auf Dramatik denn auf klassischen Krimi-Thrill setzt und sich tatsächlich als Psycho-Kriminaldrama entpuppt, gelingt es, die Spannungsschaube zum Finale hin kräftig anzuziehen. Das geht unter die Haut, nicht zuletzt, weil nahezu alle Schauspielerinnen und Schauspieler, von Sarnau über Schuster, Beckmann, Bormann und Knebel bis hin zu einer ebenso beeindruckenden wie beängstigenden Dragus, es verstehen, frei von jeglichem Overacting ihre jeweilige emotionale Lage nachvollziehbar zu transportieren und sowohl Bestürzung als auch Nachdenklichkeit auszulösen.

So hat es dieser Neustart geschafft, dass zumindest ich Charly Hübner nicht vermisst habe, sondern, vom Sonntagskaterchen in den Sessel gedrückt, fasziniert in diesen Fall vordringen und ihn empathisch nachempfinden konnte. Nach diesem geglückten Übergang darf man gespannt auf die weitere Zusammenarbeit des neuen Teams Sarnau/Beckmann sein.

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