Lothar Schramm ist ein unauffälliger Einzelgänger. Der ende Dreißig- bis Anfang Vierzigjährige, lebt in einer einfachen Berliner Mietwohnung. Man könnte ihn als ruhig, zuvorkommen, fast gutmütig bezeichnen. Er geht seiner Arbeit nach und treibt täglich seinen Lauf- und Fitnesssport. Viele Freunde scheint er nicht zu haben. So scheint die gutnachbarliche Beziehung zu Marianne, eine Prostituierte, die eine Etage über ihn wohnt, die einzige Bekanntschaft zu sein, die er hat. Marianne schätzt die unaufdringliche, zuvorkommende Art Lothars und bittet ihn um Hilfe, als sie es mit einer Kundschaft zu tun bekommt, die zwar mehr als überdurchschnittlich bezahlt, ihr jedoch großes Unbehagen bereitet. Lothar soll den Aufpasser spielen. Marianne kennt jedoch nicht das zweite Gesicht des Lothar Schramm: Lothar ist geplagt von schlimmen Wahnvorstellungen. In seinen paranoiden Zuständen führt er ein makabres Doppelleben, dass ihn in der Boulevardpresse den Namen „Lippenstiftmörder“ einbrachte. Und Marianne weiß nicht, dass Lothar sie heimlich begehrt: In seiner Phantasie gehört sie längst ihm. Zur Gewissensfrage für Lothar kommt es nach einem Essen mit Marianne. Er flößt der bereits Angetrunkenen ein Gemisch aus Cognac und Schlaftabletten ein, das Marianne zum gefügigen Opfer werden lässt. Marianne überlebt den nächsten Morgen jedoch unversehrt. Warum hat Lothar sie nicht getötet…? Regisseur Jörg Buttgereit hat hier einen schmutzigen, kleinen Film gedreht, der offensichtlich aus dem Auge des wahnsinnigen Killers gesehen wird. Die Szenen sind nicht chronologisch zusammengefügt und wiederholen sich teilweise mehrfach. Aus einem Gemisch aus psychotischen Bildern und tatsächlichen Geschehnissen, bekommt der Zuschauer hier ein Flickwerk, teils makaberer Bilder geliefert, die er selbst zusammenpuzzeln muss. Es ist für das Verständnis hilfreich, sich den Film ein zweites Mal anzutun. „Schramm“ erzählt scheinbar eine einfache Geschichte über einen Serienmörder. Serienmörder sind in Filmen und vielleicht auch in der Realität meist unauffällige Zeitgenossen. So liefert uns Jörg Buttgereit hier an sich zunächst nichts Außergewöhnliches. Es ist die Art und Weise, wie der Zuschauer die Bilder dargeboten bekommt, die außergewöhnlich ist. In Verbindung mit einer düster- kranken Atmosphäre, die der Film durch die Musik und die Schnitte liefert, entsteht so ein wahrhaft kranker filmischer Psychococktail. „Schramm“ würde mehr Stoff liefern können, als für 65 Minuten. Ich denke hier wurde Handlung bewusst weggelassen um Platz für mehr Atmosphäre zu schaffen. „Schramm“ ist für mich daher kein kurzer Spielfilm, sondern ein langer Kurzfilm. Dass „Schramm“ tatsächlich auch eine Aussage – eine art Pointe hat, kann man in der letzten Szene sehen: Marianne ist (berufsbedingt) in einer misslichen Situation. Gefesselt und geknebelt ist sie Spielball ihrer zahlungswilligen, jedoch höchst sonderbaren Kundschaft geworden. Ihr letztes Stündlein hat vielleicht schon geschlagen. Lothar Schramm, der für diesen Abend auf sie aufpassen wollte, liegt noch lebend, jedoch bewegungsunfähig am Boden, nachdem er von der Leiter fiel. Von der Leiter fiel er, weil er die Blutspritzer seiner Opfer übertünchen wollte. Ich denke man muss einen sehr eigenwilligen Humor haben, um sich dieser Ironie bewusst zu werden: „Schramm“ ist die Horrorversion einer „unglücklichen Liebesgeschichte“.