"I wear my sunglasses at night..."
Ein neuer Argento – dass man das noch erleben darf! Da schlägt das Herz jedes eingefleischten Horrorfans Saltos – oder etwa nicht? Muss man nach filmischen Fauxpas wie GIALLO und DRACULA 3D vielleicht sogar bangen, der Meister werde erneut in Ungnade fallen und am eigenen Thron sägen?
Im Rahmen der Fantasy Filmfest Nights 2022 war DARK GLASSES jedenfalls auf der großen Leinwand zu bewundern, was man ungeachtet der Umstände schon mal als Highlight bezeichnen konnte. Vor dem Film richtete sich Argento sogar persönlich via Videobotschaft an das Publikum, in welcher der 81-Jährige seine Liebe zu Film und Genrekino bekundete. Ganz groß!
Nach diesen erwärmenden Worten wähnte man sich als Horror-Enthusiast ohnehin im siebten Himmel und die vermeintlichen Enttäuschungen von vor 10 Jahren waren wie weggeblasen.
DARK GLASSES beginnt klassisch. Zwar eindeutig als Billigproduktion zu entlarven, aber im Stile der alten Giallos. In Rom geht ein Killer um, der es auf Edel-Prostituierte abgesehen hat. Eine davon ist Diana (Ilenia Pastorelli). Bedrängt von einem Unbekannten in einem weißen Lieferwagen verursacht die schwarzhaarige Schönheit einen verheerenden Verkehrsunfall. Ein chinesischer Junge verliert beide Elternteile und Diana ihr Augenlicht. Fortan auf Gehstock und Blindenhund angewiesen kämpft sich Diana ins Leben zurück. Der chinesische Junge, eigentlich in einem Waisenhaus untergebracht, flüchtet sich zu ihr. Plötzlich stellt wieder ein weißer Lieferwagen der Blinden nach. Wer steckt hinter der ominösen Mordserie?
Argento back to the Roots? Was darf man von dem 81-jährigen Filmemacher erwarten, der so viel für die Welt des Horrors geleistet, diese praktisch aufgebaut hat und definitiv nichts mehr leisten müsste. Darf man überhaupt mit Erwartungen an DARK GLASSES herantreten? Und wenn ja, mit welchen?
Zu Beginn hüllt eine Sonnenfinsternis den Film in eine apokalyptische Stimmung. Der B-Movie-Look wird geschickt umspielt. Opulentes Farbspiel und kreative Kameraeinstellungen sollte man bei diesem Spätwerk von Argento aber nicht erwarten.
Dass das Budget nicht das größte war, erkennt man an den Darstellern. Bis auf Asia Argento (LAND OF THE DEAD, TRAUMA) – hier in der Nebenrolle einer Blindenassistentin – wirken alle Akteure fahl und ausdrucksschwach.
Die Kills lassen leider zu wünschen übrig. Zu Höhenflügen des Stich- und Schlitz-Genres schwingt sich DARK GLASSES nicht empor. Das Highlight gleich zu Beginn: ein Kehlenschnitt.
SUSPIRIA, TENEBRE, OPERA und natürlich PROFONDO ROSSO. DARK GLASSES ist all dies nicht und enthält doch die Quintessenz davon. Argentos Handschrift ist erkennbar. Ein Meisterwerk darf man freilich nicht erwarten, aber das sollte jedem klar gewesen sein. Entfernt erinnert DARK GLASSES durchaus an Frühwerke wie VIER FLIEGE AUF GRAUEM SAMT und DIE NEUNSCHWÄNZIGE KATZE.
Das Ergebnis ist nicht sonderlich hochwertig oder intelligent. Wem dies sauer aufstößt, dem sei gesagt, dass es kreischende Damen, die durchs Unterholz flüchtend übertrieben oft stolpern, bei Argento früher auch gab. Ein bisschen arg weird wird es, als Diana und der chinesische Junge beim Versteckspiel mit dem Killer plötzlich von Wasserschlangen attackiert werden. Dies kann man als komplett sinnlos und deplatziert werten – oder als einen Anflug von Mystik und Suspens?
Insgesamt war der Spannungsbogen bei Argento aber definitiv schon härter auf Anschlag. Und ja, es ist so: wären die Kills etwas blutiger, es wäre ein besserer Film. Im Showdown gibt es einen Kill, in dem ein deutscher Schäferhund involviert ist. Dieser Kill hat verblüffende Ähnlichkeiten… nein, ist eine 1:1-Kopie eines Kills aus einem anderen Argento-Klassiker. Zufall? Ganz sicher nicht! Nennt es Fanservice, Selbstzitat oder Senilität – für die Gorehounds gibt’s Fleischfetzen ganz ohne CGI.
Manche sagen, an der Musik erkennt man die Qualität eines Argento-Films. Da ist durchaus was dran. Der Soundtrack von DARK GLASSES ist okay, aber eben nicht Goblin. Einmal mehr fällt auf, wie wichtig die Prog-Rocker für Erfolg und Ausdruckskraft waren. Aber diese Diskussion ist keine neue.
Unterm Strich erlebt man DARK GLASSES als interessanten Beitrag – durchwachsen, aber phasenweise sehr genießbar. Es wird wohl der letzte Film von Argento gewesen sein und man muss dankbar sein, dass sich der Maestro überhaupt noch zu solchen Fingerübungen herablässt.
So wirklich gut war er nicht, aber als Fan kann man ihn sich schon irgendwie schönreden.
Fazit deshalb:
Argento for ever!