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Vielleicht musste man erst seinen "Herbst der Gammler" (1968) gedreht haben, um Ende der 60er einen Film abliefern zu dürfen, in dem sich ein junger Schwuler einem geistig zurückgebliebenen Knaben zärtlich annähern will, eine als Schlampe und Hure verschrieene Dorfbewohnerin fickt um seine Männlichkeit zu beweisen, diese nach einer Schwangerschaft wiederum den Schwulen beschimpft & erpresst und dieser sie in einem Anfall des Jähzorns niedermeuchelt - und inmitten einer selbstgerechten Dorfgemeinschaft sind es nicht zuletzt die verspotteten & verachteten Außenseiter, die über andere Außenseiter herziehen & -fallen, um sich quasi reinzuwaschen. Sicherlich war es neben Fleischmanns Status, den er nach "Herbst der Gammler" innerhalb einiger Kreise der 68er Generation bereits genoss, auch der bereits bestehende Erfolg des zugrundeliegenden Theaterstücks, welcher dazu führte, dass Fleischmann mit dem doch eher unbequemen Stoff um Täter und Opfer, welche erst recht Täter werden, überwiegend Erfolg bei der Zielgruppe verbuchen konnte - auch wenn es selbst aus linken Ecken Gegenstimmen gab. Natürlich war der Film bei den Konservativen alles andere als beliebt: die frömmelnde und zugleich hundsgemeine Dorfgemeinschaft war doch zu sehr als derb und verlogen geschildert worden, als dass man den Film noch gegen den Strich hätte lesen & genießen können. So hagelte es natürlich Proteste - nicht zuletzt von sich verunglimpft fühlenden Niederbayern -, bei denen die Ankläger, die sich vermeintlich ungerechtfertigten Vorurteilen ausgesetzt sahen, nicht selten alle Vorurteile mit ihren mitunter doch recht wüsten Reaktionen bestätigten.

Schaut man sich Fleischmanns Debut-Spielfilm heutzutage im Rückblick an, wird halbwegs deutlich, dass man es nicht mit einem vollkommen reinen Fleischmann-Thema zu tun hat, sondern mit der Inszenierung einer fremden Vorlage, dem gleichnamigen, sichtlich von Büchners "Woyzeck" (1879) beeinflussten Stück Martin Sperrs, der hier auch gleich die männliche Hauptrolle spielt.
Sicherlich, vieles ist waschechter Fleischmann, durch und durch: etwa das relative Fortbestehen des Terrors der Nazizeit noch in den 60er Jahren (wenngleich seltener - und gemäßigter, weil unorganisiert & bloß heimlich brodelnd), den Fleischmann bereits in "Herbst der Gammler" ansprach und mit seinen späteren Bernhard Kimmel Biographien "Al Capone von der Pfalz" (1987) und "Mein Freund der Mörder" (2006) wieder aufgriff. Dazu die Vorliebe für Außenseitergestalten, für Verhöhnte und Gejagte. Und freilich der etwas derbe & teilweise absurde, grimmige Humor, der besonders in seiner etwas trashigen Sci-Fi-Farce "Die Hamburger Krankheit" (1979) voll zur Geltung kommt...
Was aber mehr Sperr als Fleischmann zu sein scheint, das ist die ungewöhnliche Ambivalenz, die an wirklich jeder Figur noch unschöne Züge entdeckt und ein sehr pessimistisches Gesellschaftsbild zeichnet, nach welchem es keine Unschuldigen gibt und Gewalt die gebräuchlichste Antwort auf Gewalt darstellt, ohne dass sich die scheinbar befreiende Wirkung einstellen würde, die manch schwächeres Selbstjustiz-Drama auszeichnet: Da sind Mutter und Sohn, von außerhalb hinzugezogen und als Fremde Außenseiter, zumal der Sohn schwul ist. Da ist eine promiskuitive junge Frau, die sich schnell jedem hingibt, dafür als Schlampe und Luder geächtet wird. Da ist eine Bäuerin, die unehelich mit ihrem Knecht in Partnerschaft lebt. Da ist ein zurückgebliebener Sohn, der für alle als Dorftrottel hinhalten muss. Und da sind die restlichen Dörfler, die über alle herziehen, die anders sind: schwul, allzu freizügig, behindert. Beim fröhlichen Schlachtfest lassen aber auch die frommen Dörfler alle Hemmungen fallen, reden höchst unflätig daher und begrabbeln auch schonmal inmitten der Schweinerei aus Hirnmasse und Blut die Dorfhure: Fleischmann wandelt hier geradezu auf den absurden Pfaden des "Mouvement Panique" Arrabals, den er zehn Jahre später in "Die Hamburger Krankheit" auch als Darsteller einsetzen konnte. Im gewöhnlichen Alltag jedoch begnügen sich alle damit, über die Außenseiter herzuziehen. Und diese versuchen sich anzupassen - und ziehen ihrerseits über andere Außenseiter her.
Das ist die Ausgangssituation und plötzlich schaukelt sich alles hoch: der Schwule - er soll mal im Gefängnis gesessen haben - nähert sich dem jungen Dorftrottel an. Er und die Dorfhure kommen sich - zum Unwillen seiner Mutter - näher, doch als er die Behandlung nicht mehr erträgt und auch noch eine Anzeige gegen ihn im Raum steht, will er sich aus dem Staub machen; just in dem Augenblick will ihn die Dorfhure nicht gehen lassen, sei sie doch durch ihn schwanger geworden. Es kommt zum Streit, in dem sich beide gegenseitig immer heftiger beschimpfen, bis er sie schließlich umbringt: ersäuft sie halb, ersticht sie halb. Die Dörfler finden die Sterbende und schließlich beginnt in idyllischen Bildern zu fröhlichem Gejodel die gemeinsame Menschenjagd. Am Ende hat sich die Dorfgemeinschaft ihre Idylle schließlich wieder hergestellt: der Täter ist gefasst und man feiert das Ereignis - hübsch selbstgefällig & geradezu faschistoid, endlich eine reine, keimfreie Gemeinschaft ohne perverse Außenseiter. Selbst das uneheliche Paar hat bereits seine Hochzeit angekündigt.

Auch wenn die Aussage des Films, die satirische Farce letztlich sehr eindeutig an die Oberfläche tritt, haben Fleischmann und Sperr doch keine s/w-Malerei betrieben: weder sind die Dörfler überzeichnete Monstren - eher schon Verblendete, die nicht bemerken, was sie tun und sich hier und da auch mal ein wenig verständnisvoll zu geben versuchen -, noch sind die Opfer Unschuldslämmer. (Freilich: ihre Schuld liegt nicht unbedingt in dem, was ihnen vorgeworfen wird - sieht man von dem Mord einmal ab -, sondern darin, dass sie sich beinahe alle nur in diesen vorgeworfenen Punkten überhaupt von dem Rest der Gemeinschaft unterscheiden.)
Das gibt es - vorher & nachher - bei Fleischmann nicht allzu häufig: entweder entdecken seine Charaktere eine eigene Schuld oder Unbekümmertheit und bemühen sich dann darum, künftig bessere Menschen zu sein - etwa in "Es ist nicht leicht ein Gott zu sein" (1989) -, oder aber sie haben zumindest ein Gespür für Gut & Böse und ringen mit ihrem Gewissen - etwa Michel Piccoli in "Der dritte Grad" (1975). Oder es gibt eine deutliche Aufspaltung in gute und gehässige Figuren - so wie im "Herbst der Gammler", der deutlich für eine neue Jugendkultur Partei ergreift. Positive Identifikationsfiguren stehen nahezu immer zur Verfügung und werden selbst dann, wenn sie moralisch versagen, durch ihr schlechtes Gewissen wieder geadelt.
In "Jagdszenen aus Niederbayern" jedoch fehlen sie weitestgehend: die Figuren unterscheiden sich in erster Linie durch das Leid, das sie erdulden müssen, weniger durch gute oder schlechte Eigenschaften, auch wenn es da sicherlich Abstufungen zu beobachten gibt, die aber gerade nicht mit der Trennung zwischen Außenseitern und Gemeinschaft übereinstimmt. Selbst Sperr, der als schwuler Außenseiter lange Zeit in seiner schüchternen Zurückhaltung so positiv konnotiert ist, wie keine andere Figur, verleiht seiner Rolle einen irritierenden Beigeschmack, wenn er sich - durchaus lustvoll und ohne sein Handeln überhaupt zu reflektieren - versuchsweise dem zurückgebliebenen Jungen nähert, in seinen (nur zu vermutenden) Absichten dann allerdings auch sehr schnell unterbrochen wird (was dem Zuschauer eine Beurteilung der Situation natürlich erschwert - insofern eine überaus gewagte, obwohl zugleich reichlich unverfängliche Szene). Und sein Mord gegen Ende, mag er noch so sehr eine provozierte Affekthandlung sein, zeugt von einer doch recht drastischen Gewaltbereitschaft, die ihn zwar nicht zum Monster, aber eben auch nicht unbedingt zum Heiligen macht.

Angesprochen darauf, warum er in seinen Filmen über den Ganoven und Mörder Bernhard Kimmel - und im Titel "Mein Freund der Mörder" ist natürlich durchaus eine Ambivalenz enthalten - nicht auch dessen Opfer zu Wort kommen ließ - denn genau an diesem Punkt endete die Ausgewogenheit auch wieder -, antwortete Fleischmann mal, es könne sich „die Forderung nach Ausgewogenheit, die wir als Filmleute öfter zu hören bekommen, nur auf das Programm beziehen, nicht auf einen einzelnen Film."[1]
"Jagdszenen aus Niederbayern" ist indes durch und durch ausgewogen - und kann es sich dabei trotzdem noch leisten, deftig humorvolle Übersteigerungen ins Absurde abzuliefern... Der Film spitzt freilich Situationen und Eigenschaften extrem zu, ist insofern also keinesfalls ein realistisches Gesellschaftsbild, sondern durchaus übertrieben - spitzt aber eben auch sehr fair auf allen Seiten gleichermaßen zu: keine Schurken, die immer bösartiger werden, während die Helden ihrerseits immer reiner werden, sondern im Prinzip ganz normale Menschen mit ihren ganz normalen, weniger schönen Seiten, die von Fleischmann allerdings allesamt noch etwas hässlicher gemacht werden, als sie es eh schon sind.
Wer also in "Jagdszenen aus Niederbayern" ausschließlich einen Film sieht, der über frömmlerische Heuchelei und Intoleranz in einer konservativen, christlichen Dorfgemeinschaft in Niederbayern herzieht, macht es sich zu leicht - auch wenn sich die Laiendarsteller hinterher sogar darin einig waren, dass es ein Schwuler in ihrem Dorf sicher nicht leicht hätte. Letztlich muss man sich als Zuschauer wohl doch fragen, ob man in einem gewissen - wenn auch viel geringeren - Ausmaß nicht selbst stets mehr oder weniger danach strebt, einer Gruppierung anzugehören, mit der (& mit deren Rückhalt) man dieselben Feindbilder pflegt (auch wenn es sich bei diesen nicht unbedingt um jene Außenseiter handelt, auf denen ohnehin schon jeder herumhackt).
Fleischmanns Abrechnung mit dem verlogenen Heimatfilm-Idyll der Nachkriegszeit gerät letztlich zu einer allgemeingültigen Gesellschaftskritik - wohl auch deshalb hatte Fleischmann das in der direkten Nachkriegszeit spielende Stück in die damalige Gegenwart übertragen -, die durch die geradezu absurde, durchaus auch pessimistische Zuspitzung ins Extrem ihre Relevanz keinesfalls verliert. Stilistisch durchaus mit einigem Fingerspitzengefühl inszeniert ist dieses Spielfilmdebut auch formal ungewöhnlich gut gelungen - und zudem ist "Jagdszenen in Niederbayern" auch noch mit Hanna Schygulla & Angela Winkler (beide in ihrem ersten Kinofilm mit Spielfilmlänge zu sehen) interessant besetzt, wobei sich eine Kluft zu den Laiendarstellern kaum bemerkbar macht.
8/10


1.) Edition Filmmuseum 59. Booklet; S. 4.

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