Der animierte „Into the Spider-Verse” hatte bereits mit Comic-Multiversen in gezeichneter Form experimentiert, drei Jahre später schaffte es dieser Gedanken mit „Spider-Man: No Way Home“ sogar in den Blockbuster-Realfilm.
Der dritte Teil „Home“-Spider-Man-Zyklus setzt direkt am Ende von „Far From Home“ an: Der verstorbene Mysterio (Jake Gyllenhaal) hat für Peter Parker (Tom Holland) alias Spider-Man noch aus dem Grab einen letzten Racheakt geplant, als ein posthum veröffentlichtes Video enthüllt, wer die freundliche Spinne aus der Nachbarschaft wirklich ist. Angeheizt durch die Umstände von Mysterios Tod, die Spider-Man schuldig wirken lassen, und die persönliche Agenda von Daily-Bugle-Chef J. Jonah Jameson (J.K. Simmons) wird der Alltag nicht nur für Peter zum Spießrutenlauf, sondern auch für sein Umfeld: Seine Freundin MJ (Zendaya), seinen besten Kumpel Ned Leeds (Jacob Batalon), seine Tante May (Marisa Tomei) und Happy Hogan (Jon Favreau), Peters Freund und Verbindungsmann zu Stark Industries.
Dank der Anbindung ans MCU tauchen auch weitere Bekannte aus dem Kosmos auf: Matt Murdock (Charlie Cox) ist Peters Anwalt, als man ihm Verbrechen in die Schuhe schieben möchte, außerdem residiert Stephen Strange (Benedict Cumberbatch) in New York, an dessen Seite Spider-Man schon in den „Avengers“-Filmen „Infinity War“ und „Endgame“ kämpfte. Peter ersucht den Magier um Hilfe. Der kann die Zeit zwar nicht zurückdrehen, aber die Welt vergessen lassen, dass Peter Spider-Man ist. Beziehungsweise könnte: Weil der gewohnt vorlaute Teenie ihm dazwischenredet und den Zauber immer wieder modifizieren will, legt Doctor Strange den Plan wieder auf Eis.
Dummerweise hat seine Magie schon erste Effekte und zieht Personen aus anderen Realitäten an, die wissen, dass Peter und Spider-Man dieselbe Person sind. Also steht bald Doc Octopus (Alfred Molina) vor Peter und will diesem ans Leder – und er ist nicht der einzige Schurke aus einer Paralleldimension, der mit der freundlichen Spinne aus der Nachbarschaft kurzen Prozess machen will…
„Spider-Man: No Way Home“ erinnert nicht nur an das bereits erwähnte „Avengers“-Doppelfinale, sondern auch an „Jay and Silent Bob Strike Back“ aus Kevin Smiths comicinspiriertem View-Askew-Verse. Sicherlich funktionieren diese Filme zu einem gewissen Grad ohne Kenntnis der Vorgänger, aber ihre eigentliche Wirkung entfalten sie erst bei entsprechendem Vorwissen. In diesem Falle ist eine Vertrautheit mit rund 20 Jahren „Spider-Man“-Kinogeschichte von immensem Vorteil, denn so gut wie jeder Schurke und so gut wie jeder Plotstrang aus allen bisherigen Filmen spielt eine Rolle. Natürlich auch durch Auftritte der entsprechenden Darsteller – wer sich überraschen möchte, der sollte besser keine Besetzungslisten anschauen. Wobei die Frage, wer sich wie verhält und warum dies so ist, spannender ist als jene danach, wer überhaupt auftaucht.
So muss das Script von Chris McKenna und Erik Sommers nicht nur jede Menge Fanservice betreiben und alte Zöpfe einbinden, sondern auch noch einen Mainplot erzählen. Das knarzt es manchmal im Gebälk, wenn man die Fülle an Figuren und Handlungssträngen unter einen Hut bekommen und manche Entwicklung übers Knie brechen muss, trotz einiger Schwächen funktioniert „Spider-Man: No Way Home“ mit seiner filminternen Logik mit Magie und Multiversum jedoch. Die Einbindung von Doctor Strange ermöglicht auch ein, zwei Szenen, in denen Raum und Zeit wie in seinem Solofilm biegen kann, was für visuell opulente Momente sorgt, gerade wenn sich Spider-Man und Strange in dieser Form käbbeln, die allerdings auch etwas wie Fremdkörper in dem Film wirken.
Zum Konflikt der Marvel-Heroen kommt mit Blick auf den Umgang mit den Superschurken: Strange will diese in ihre Universen zurückschicken und dem Tod überantworten, Spider-Man möchte sie resozialisieren. Sie haben andernfalls keinen Weg zurück nach Hause, daher auch der Titel des Films. „Spider-Man: No Way Home“ stellt mehr als jeder seine Vorgänger die Gemeinsamkeiten zwischen seinem Helden und seinen Gegnern heraus: Wie er sind sie oft das Resultat von Experimenten oder Unfällen, wie er sind sie in vielen Fällen brillante Wissenschaftler. Mehr als in jedem anderen „Spider-Man“-Film erkennt sich Peter selbst in den Schurken, womit der dritte, erneut von Jon Watts inszenierte MCU-„Spider.Man“ die Dualität von Superheld und Superschurke untersucht, wenngleich er nicht so tief bohrt wie beispielsweise „The Dark Knight“.
„Spider-Man“-typisch changiert der Film zwischen der leichten Komik des unbeholfenen Teenagers Peter Parker und den tragischen Geschichten, die dem Helden, seinen Gegnern und seinem Umfeld widerfahren. So geht es viel um Schicksalsschläge, von denen Peter auch hier wieder einige einstecken muss – mindestens einer davon trifft auch das Publikum tief ins Herz. Bisweilen verliert „Spider-Man: No Way Home“ die Balance, wenn auf eine emotionale Szene doch etwas schnell eine Comedy-Einlage folgt, jongliert aber meist recht geschickt mit diesen Elementen. Insgesamt wurde die Komik im Vergleich zu den Vorgängern etwas zurückgefahren: Dieser Spider-Man ist gereift, kann nicht mehr so lockerleicht auftreten wie dereinst in „Homecoming“.
Natürlich gibt es neben den dramatischen und witzigen Einlagen auch noch eine Portion Superhelden-Action, wenn sich Spider-Man mit seinen zahlreichen Widersachen zofft. Aufgrund der Kräfte seiner Gegner ist dieses Mal viel CGI-Unterstützung im Spiel, die Körperlichkeit kommt etwas abhanden, doch „Spider-Man: No Way Home“ bemüht sich immer noch um kreativ choreographierte Gefechte. Gerade die erste Konfrontation mit Doc Octopus auf einer Brücke beweist großen Einfallsreichtum, ebenso das Finale, welches auf der und um die Freiheitsstatue stattfindet, die von einem Baugerüst umgeben ist, was viele Möglichkeiten zum Klettern, Schwingen und Kämpfen in jeder Art bietet.
Aufgrund der Menge an Figuren kommen die bisherigen Hauptdarsteller – selbst bei einer Laufzeit von rund zweieinhalb Stunden – etwas weniger zum Zug als in den Vorgängern. Tom Holland schlägt sich jedoch erneut souverän als Held zwischen Teenagersorgen und der großen Verantwortung, die aus seiner großen Kraft erwächst, Zendaya kann mit einer größeren Rolle und einem aktiveren Part Akzente setzen. Jon Favreau ist für die Auflockerung zuständig, Marisa Tomei, Jacob Batalon und Toni Revolori überzeugen in ihren gewohnten Parts. Dafür ist viel vom Inventar der Vorgänger – etwa Angourie Rice, Martin Starr und Hannibal Buress – für bessere Cameos da. Benedict Cumberbatch ist dafür Edelsupport als Doctor Strange, ähnlich wie die Menge an Hochkarätern wie Alfred Molina oder Willem Dafoe, die ihre Rollen aus den früheren „Spider-Man“-Filmen aufleben lassen.
So liefert „Spider-Man: No Way Home“ dann reichlich Kurzweil für zweieinhalb Stunden Laufzeit, beschäftigt sich mit Diskursen um Schuld und Resozialisierung, während er das Mammutprojekt angeht, einen Multiversum-Film zu schaffen, der alle Plotstränge der bisherigen Filme verknotet. Natürlich geht die eigene Identität bei soviel Multiversum und Metadiskurs ein wenig verloren und der Plot ächzt manchmal, um wirklich all das unterzubringen, doch trotz einiger Schwächen geht das Wagnis insgesamt auf – auch wenn das Ergebnis manchmal den Hauch eines Geschenks an die Fans hat, das alle anderen Zuschauerschichten außen vor lässt.