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Der Academy Award scheint der gebürtigen Braunschweiger Filmemacherin Nora Fingscheidt ein wenig näher zu kommen, nachdem sie mit „Systemsprenger“ internationale Beachtung fand und nun folgerichtig ihr Hollywood-Debüt feiert. Als Produzenten fungieren unter anderem Veronica Ferres und Sandra Bullock, die zugleich in der Hauptrolle eine mitreißende Performance hinlegt.

Seattle: Ruth (Bullock) wird nach 20 Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen, kommt in einer miesen Absteige unter und hält sich mit der Nachtschicht in einer Fischfabrik über Wasser. Seit dem damaligen Mord an einen Polizisten, der ihre Farm zwangsvollstrecken wollte, lebt ihre kleine Schwester Katie (Aisling Franciosi) bei Adoptiveltern und ahnt nichts von einer älteren Schwester. Anwalt John (Vincent D'Onofrio), welcher mit der Familie in Ruths ehemaligem Zuhause lebt, könnte ihr behilflich sein, Kontakt zu Katie aufzunehmen…

Die Geschichte basiert mehrheitlich auf einer britischen Miniserie von 2009 und sollte ursprünglich mit Angelina Jolie in der Hauptrolle umgesetzt werden. Bullock erweist sich jedoch als goldrichtige Wahl für die Figur der verhärmten und unnahbaren Ruth, der nur vage Emotionen anzusehen sind und die Opfer eines Systems ist, welches kaum eine zweite Chance zulässt. Als fähige Schreinerin wird sie ohne Umschweife abgelehnt, ihre Absteige in Chinatown gleicht einem Moloch, zudem ist sie komplett auf sich allein gestellt.

Anfangs wird die Erzählung ein wenig von unterschiedlichen Figurenkonstellationen überfrachtet: Da gibt es die auf Rache sinnenden beiden Söhne des seinerzeit getöteten Polizisten, es gibt die Adoptiveltern von Katie nebst Adoptivschwester, dazu Anwalt John einschließlich Familie und kurz darauf ein vages Love Interest (Jon Bernthal) in der Fischfabrik. Zudem gesellen sich Schnipsel der damaligen Tat in Form einiger Rückblenden, was auf Dauer kaum neue Erkenntnisse zutage fördert.

Mit Fokus auf Ruth und ihr unmittelbares Umfeld funktioniert die Story recht gut, die latente Tristesse wird durch dominierendes Grau und ausgeblichene Farbgebungen atmosphärisch angeglichen und obgleich der Score von Hans Zimmer nicht sonderlich markant ausfällt, untermalt er die Stimmung stets angemessen. Doch speziell die Exkurse zu den unterschiedlich handelnden Brüdern erscheint zunehmend konstruierter und prompt gerät der Stoff gegen Ende beinahe zum Thriller, nebst einem eilig eingebauten Twist, der auf moralischer Ebene einiges durcheinander wirbelt und so manche Entscheidung irrational erscheinen lässt. Der Ausgang versöhnt zwar auf gewisse Art, er wirkt aber arg forciert.

Ein paar der dramaturgischen Schwachstellen vermag die starke Darstellerriege indes klar auszubügeln. Bullock zeigt sich fast durchgehend ungeschminkt und schafft es, in winzig kleinen Nuancen in nur wenigen Momenten Gefühle durchschimmern zu lassen, während ihre Körperhaltung die 20 Jahre Knast glaubhaft widerspiegeln. D'Onofrio und Filmfrau Viola Davis haben da weitaus weniger zu tun, während Aisling Franciosi am Piano ebenso überzeugt wie Richard Thomas und Linda Emond als besorgte und zugleich nervöse Adoptiveltern.

Als reines Drama mit Konzentration auf die Hauptfigur und ihr Umfeld macht Fingscheidt vieles richtig und beschreibt einen Teufelskreis, bei dem Schuld, Sühne, Gnade und Vergangenheitsbewältigung nachvollziehbar behandelt werden. Im letzten Drittel erfährt das Geschehen einen Bruch, der wie ein Eingeständnis ans konventionell ausgerichtete Publikum wirkt und in seiner Form gar nicht notwendig gewesen wäre.
Dennoch beeindruckendes Schauspielkino und ein über weite Teile recht ansprechendes Drama.
7 von 10

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