Retro-Neo im Kaninchenbau
„Nach all den Jahren, zurück in die Matrix!?“ Spieleentwickler Thomas Anderson sieht seinen Geschäftspartner Smith verdutzt an. Ist das ein Statement oder eine Frage? Ist das belustigt, ironisch, ungläubig, enthusiastisch, oder gar fassungslos gemeint? Alles ist möglich, nicht ist sicher. Willkommen in der Meta-Retro-Sequel-Realität eines der faszinierendsten, mindestens aber wegweisendsten Filme der letzten 50 Jahre. Dieser war nicht nur eine stylische Science-Fiction-Dystopie mit bahnbrechenden Actionsequenzen, sondern auch ein intellektueller Diskurs über Film-, Literatur- und Philosophiegeschichte. Man musste nicht alles verstehen oder dekodieren können, um dem Faszinosum dieses Hybriden aus Cyberpunk und Martial Arts zu erliegen, im Gegenteil. Je mehr in der filmeigenen Cloud verblieb, desto größer der Anreiz immer weiter in den Kaninchenbau vorzudringen.
Außerdem war der eigentliche Science-Fiction-Plot trotz seiner Komplexität sehr klar und logisch aufgebaut und konnte vom Zuschauer zusammen mit dem Protagonisten Neo sukzessive erschlossen werden. Denn dieser wusste zu keinem Zeitpunkt mehr als wir und begriff erst nach und nach, mit wem und was er es eigentlich zu tun hatte. Die beiden Fortsetzungen scheiterten dann einigermaßen deutlich an dem so verblüffend aufgegangenen Paradoxon der simplen Komplexität und verloren sich entweder im philosophischen Dschungel (THE MATRIX RELOADED) oder in banalen Dystopie-Versatzstücken (THE MATRIX REVOLUTIONS). Die Welt der Matrix wurde damit von innen heraus entzaubert und entmystifiziert, so dass nicht wenige bedauerten, dass die kreativen Genies Larry und Andy Wachowski sich dem ehernen Hollywood-Gesetz des obligatorischen Hit-Recyclings unterworfen hatten.
Dass das Franchise dann doch noch einen vierten Ableger hervorbringen würde, hat dann doch viele überrascht. Schließlich waren fast 20 Jahre seit dem unbefriedigenden Trilogie-Abschluss vergangen. Zudem besteht bei späten Fortsetzungen immer die Gefahr keinen Hype mehr vorzufinden, an den es sich anknüpfen liesse. Aber - und das ist hier der Gamechanger, wie es heute so schön heißt -diese logisch klingenden Argumente werden von einem Zeitgeistphänomen ausgehebelt, das auf einer irrationalen und emotionalen Welle reitet, die so essentielle künstlerische Insignien wie Innovationsgeist oder Wagemut einfach wegspült. Der schnell gebrachte Begriff der Retrofixierung greift allerdings zu kurz und beschriebt unsere filmhistorische Realität nur unzureichend.
All die späten Sequels, Prequel oder Reboots, seien es wieder belebte Replikantenjäger, Abenteuerarchäologen, Sternenkrieger, Dinosaurier oder maskierte Killer sind nicht einfach nur der Ausdruck eines eklatanten Mangels an Phantasie, Mut und Kreativität. Sie stehen auch für die Sehnsucht nach einer imaginären, verklärten „guten alten Zeit“, in der das Kino noch verlässlich Träume und Ereignisse hervor brachte. Anders und universeller ausgedrück: In Zeiten einer maximalen Zukunftsskepsis und Reizüberflutung bietet das Vertraute eine Beruhigungspille, die man sich gerne ab und zu verabreicht bzw. verabreicht bekommt. Aber auch das ist noch nicht die ganze Wahrheit, denn es gibt noch eine weitere Ebene, heute auch gerne als Metaebene bezeichnet. Und das ist die Lust am Kommentieren, Analysieren und Sezieren von der Warte eines wissenden und retrofixierten Nerds, der sich seiner spleenigen Leidenschaft bewusst ist und diese damit selbstironisch bricht, nur um daraus noch mehr Befriedigung oder Spaß zu ziehen.
Und in genau dieser Zeitgeistmatrix ist THE MATRIX RESURRECTIONS angesiedelt. Ob man den Film nun als Produkt seiner Zeit abtut, oder als süffisanten Kommentar ebendieser liest, liegt letztlich im Auge des Betrachters. Deutlich mehr Spaß macht aber zweifellos die zweite Lesart und der Film liefert dafür auch einen prall gefüllten Zauberkasten. Regisseurin Lana Wachowski hat nicht einfach Zutaten, Look und Anlage ihres größten Erfolges recycelt, sie hat all diese Einzelteile aus heutiger Sicht analysiert und dann neu arrangiert und interpretiert. Wieder gibt es stilisierte Martial-Arts-Kämpfe und die ikonischen Bullettime-Sequenzen. Wieder wird die Hauptfigur durch diverse Mentoren ins und hinters Licht geführt. Nach wie vor gibt es die Matrix in ähnlicher Funktionsweise wie zuvor.
Der vierte Matrix-Film kann also als einziges großes Déja-Vu-Spektakel genossen, oder als lahmer Neuaufguss kritisiert werden. Manche werden ihn als peinliche Selbstparodie ablehnen, andere wiederum als kluge Selbstreflexion goutieren. Er funktioniert zugleich als bissiger Kommentar zum aktuellen Zustand Hollywoods, wie auch als clevere Anpassung der Matrix-Idee an den aktuellen Zeitgeist. Nichts ist sicher, nichts ist vorprogrammiert, nichts ist eindeutig. In dieser Hinsicht ist THE MATRIX RESURRECTIONS ein ungemein faszinierender Film, denn wann stehen dem Zuschauer schon einmal so viele Wege, Abzweigungen und Erlebnismöglichkeiten offen? Ob die im Rausch oder Kater münden, ist ebenfalls offen und nur vordergründig ein Paradoxon.
Ob MATRIX RESURRECTIONS nun als ein guter oder schlechter Film zu werten ist, muss jeder für sich entscheiden und beides ist leicht möglich. Auch als bloße Fortsetzung funktioniert das dritte Sequel bestimmt nicht für jeden. Zwar sind mit Keanu Reeves (Neo) und Carrie-Ann Moss (Trinity) beide Protagonisten wieder an Bord, aber ihre Beziehung ist deutlich emotionaler, einige werden sagen profaner angelegt. Die neue Matrix-Welt ist zudem auffällig bunter, humorvoller und lebensbejahender konstruiert. In Kombination mit dem insbesondere die erste Hälfte dominierenden Meta-Sperrfeuer werden Irritationsreaktionen vor allem bei MATRIX-Puristen nicht ausbleiben. Letztendlich gilt es die Prämisse zu akzeptieren, dass Lana Wachowski mehr einen von der eigenen Biographie und aktuellen Zeitströmungen geprägten Blick auf ihr Werk liefert, als dass sie an einem in Ton und Anlage dem Original so nahe wie möglich kommenden Sequel interessiert gewesen wäre.
Filmgenuss oder Filmverdruss waren schon immer vor allem und zuvorderst von sehr subjektiven Parametern bestimmt. MATRIX RESURRECTIONS entstaubt diese Binsenweisheit nur auf spektakuläre Weise. Anders ausgedrückt: Filmkritik oder Filmanalyse können den jeweiligen Ausschlag nur sehr unzureichend erklären, eher kommentieren, bestenfalls Anstöße geben. Nach all den Jahren in die Matrix zurück zu kehren ist gerader deshalb eine unbedingte Empfehlung. Es braucht dafür weder die rote noch die blaue Pille. Man muss nur offen sein, dann ist alles offen.