Die halbtotale Erinnerung
US-Regisseur Paul Thomas Andersons („Inherent Vice – Natürliche Mängel“) jüngster abendfüllender Spielfilm ist die für seine Verhältnisse überraschend unsperrige und leichtfüßige Coming-of-Age-Liebeskomödie „Licorice Pizza“, ein ‘70er-Jahre-Throwback, der im November 2021 in den US-Kinos startete und es im Januar 2022 nach Deutschland schaffte. Er basiert auf den Erinnerung seines Freunds Gary Goetzmans; der Titel ist einer in den 1970ern in den USA verbreiteten Schallplattenladenkette entlehnt (schwarze Vinyl-Schallplatte = „Lakritzpizza“), die im Film allerdings keinerlei Rolle spielt.
Das San Fernando Valley in Los Angeles im Jahre 1973: Gary Valentine (Cooper Hoffman) ist 15 Jahre jung, ein beliebter Kinderdarsteller aus dem Film „Unter einem Dach“ (angelehnt an den Film „Deine, meine, unsere“) um eine kinderreiche Patchwork-Familie und bereits ein geschäftstüchtiger Jungunternehmer, der eine eigene PR-Agentur betreibt, für die auch seine Mutter arbeitet. Entsprechend selbstbewusst tritt er seiner moppeligen und pickligen Erscheinung zum Trotz gegenüber Alana Kane (Alana Haim) auf, als er sie zu einem Rendezvous einzuladen versucht. Alana ist bereits zehn Jahre älter, verdingt sich als Fotoassistentin und fällt ihm auf, als in seiner Schule Jahrbuchfotos geschossen werden. Widerwillig lässt sich die ebenfalls nicht auf den Mund gefallene Alana auf das Treffen ein, wobei man sich miteinander anfreundet. Als Gary zusammen mit dem „Unter einem Dach“-Team zu einer Fernsehaufzeichnung nach New York eingeladen wird, begleitet Alana ihn als Aufpasserin, da seine Mutter unabkömmlich ist. Dort lernt Alana Garys Schauspielkollegen Lance (Skyler Gisondo, „Halloween“ (2007)) kennen, doch das erste gemeinsame Abendessen mit Alanas orthodox-jüdischen Eltern überstehen die geknüpften zarten Bande nicht. Stattdessen laufen sich der unter Liebeskummer leidende Gary und die um ihren eigenen Platz im Leben kämpfende Alana sich wieder über den Weg. Und wieder. Und wieder…
Um eine höchstmögliche Authentizität zu erlangen, hat Anderson seinen Film auf 35-mm-Material und mit Kameralinsen aus dem Analogzeitalter gedreht. Dieser Drang zur Unverfälschtheit spiegelt sich auch in den ungeschminkten Darstellern der Hauptrollen wider, die tatsächlich wie echte Menschen mit ihren Makeln und ihrer „Unvollkommenheit“ aussehen – und nicht wie Hollywood-Schönheiten, die echte Menschen spielen. Das geht so weit, dass Alana auch im wahren Leben Alana heißt, der Nachname ihrer Rolle an den Klang ihres realen Nachnamens angelehnt wurde und ihre Familie größtenteils von ihrer tatsächlichen Familie gespielt wird (wie Philip Seymour Hoffmans Sohn Cooper debütiert auch Haim hier in einem abendfüllenden Spielfilm; bekannter ist sie als Teil des Popmusik-Trios „Haim“, in dem sie zusammen mit ihren Schwestern musiziert und für die Anderson bereits Musikvideos drehte).
Hauptbestandteil der Handlung ist die Entwicklung der Beziehung Alanas und Gary zueinander, vor dem Hintergrund der Selbstfindung Alanas. Diese wundert sich über sich selbst, darüber, dass sie mit dem oftmals noch recht kindischen Gary und dessen Freunden lieber etwas unternimmt als mit Gleichaltrigen, und hadert damit, dass sie weder beruflich noch in Bezug auf eine libidinöse Beziehung bisher so wirklich ein Bein auf die Erde bekommen hat. Die Komik des Films ist frei von Slapstick und Klamauk, setzt stattdessen auf komische Situationen, gepfefferte Dialoge, die Karikatur populärkultureller Persönlichkeiten und die Absurdität zumindest von Teilen des Zeitgeists.
Doch bei allem Humor bleibt der Ernst nicht ausgespart: Neben kleineren zwischenmenschlichen Dramen zwischen Alana und Gary findet sich dieser u.a. in der Ölkrise, die über die USA hereinbricht, und im Wahlkampf des jungen Demokraten Joel Wachs (Benny Safdie, „Pieces of a Woman“), dessen Team sich Alana anschließt. Dieser wird bespitzelt, um etwas Despektierliches über ihn herauszufinden, was indirekt auf die verbreitete Homophobie der damaligen Zeit anspielt. Barbra Streisands Friseur Jon Peters wird von Bradley Cooper („Hangover“) als fieser Kotzbrocken verkörpert, der jedoch sein Fett wegbekommt. Sean Penn („Dead Man Walking – Sein letzter Gang“) mimt Jack Holden, offenbar eine Persiflage auf William Holden, der sich mit Alana und Tom Waits („Rumble Fish“) nur noch in Filmzitaten unterhält und betrunken einen Motorradstunt hinlegt. Dieser wird jedoch von einer irrwitzigen Rückwärtsfahrt durch die Hollywood Hills mit einem Transporter ohne Sprit im Tank getoppt. Zum Zeitgeist wiederum zählt, dass Wasserbetten der letzte Schrei waren und Flipperautomaten legalisiert wurden, beides wurde hier sehr eindringlich filmisch verarbeitet.
Angesichts der grundsätzlichen Schwere von Themen wie Ölkrise, orthodox-religiöses Elternhaus, Wahlkampf mit schmutzigen Methoden, aber auch Gewaltandrohungen und -ausbrüchen, einer Verhaftung Garys und einem offenbar frei herumlaufenden Mörder dürfte es Teile des Publikums irritieren, dass „Licorice Pizza“ sein Gewicht nicht entsprechend verlagert und etwas aus diesem Portfolio des Schreckens eskalieren lässt. Stattdessen bleibt er fokussiert auf Alanas und Garys Gefühlswelt. Beide bleiben nicht untangiert von diesen Ereignissen, allzu großen Einfluss haben sie aber nicht auf sie – denn es gibt da etwas, das für sie viel bedeutender ist. Zudem scheint mir diese Herangehensweise ein bewusstes Spiel Andersons mit der Verklärung der eigenen Phase des Heranwachsens zur „guten, alten Zeit“ zu sein, in der wer weiß was auf der Welt los sein konnte, individuelle positive Erfahrungen wie verrückte, aber erfolgreich gemeisterte Stationen des Erwachsenwerdens die Erinnerung aber dominieren.
Oder anders ausgedrückt: Wird man in dieser persönlichkeitsprägenden Phase durch Ereignisse wie die oben genannten zwar durchaus behindert, wird sie einem aber nicht grundlegend genommen, verhindern sie keine nostalgischen Rückblicke. Wer also meint, es gehe in „Licorice Pizza“ letztlich um nichts, irrt gewaltig: Für Alana und Gary geht es um alles! Haim und Hofman glänzen in ihren Rollen, wie es für Debütant(inn)en alles andere als an der Tagesordnung ist; möglicherweise kommt es ihnen zugute, dass sie sich bereits kannten und Alana, so liest man, als dessen Babysitterin tatsächlich auf ihn achtzugeben hatte. Die Kameraarbeit mit ihren herrlichen Fahrten ist ebenfalls eine Klasse für sich, das Ambiente ist sonnig, die Geschichte zärtlich und herzlich erzählt, die musikalische Untermalung stimmig, hörenswert und zeitgenössisch – mit Ausnahme des von Chris Norman und Suzi Quatro gesungenen Hits „Stumblin' In“, das erst fünf Jahre später veröffentlicht wurde.
„Licorice Pizza” ist ein hintersinniger Herzwärmer, der aufgrund seines Handlungsorts und seines karikierenden Humors hin und wieder an Tarantinos „Once Upon a Time… in Hollywood“ erinnert, sich jedoch nicht auf den Filmbetrieb fokussiert und die reale Historie nicht umschreibt. Welch zumindest in Teilen windiger und dadurch tendenziell unsympathischer Geschäftemacher Gary eigentlich ist, scheint jedoch niemand zu bemerken, weshalb mir nicht ganz klar ist, inwieweit diese Wirkung intendiert ist oder ob nur ich das so empfunden habe. Das hat etwas von einer naiv anmutenden, unreflektierten Darstellung des „amerikanischen Traums“, entspricht womöglich aber auch schlicht dem damaligen Zeitgeist. Nichtsdestotrotz: Ein wunderbares zelluloidgewordenes Stück fremder persönlicher Erinnerung, in der man auch als Spätgeborener gern mitschwelgt, und zugleich die Geschichte einer ungewöhnlichen zwischenmenschlichen Beziehung.