Ein ganz in schwarz gekleideter Kopfgeldjäger und sein nackter Sohn reiten durch die Wüste. Beide steigen ab, und knien sich in den Sand. Der Kopfgeldjäger übergibt seinem kleinen Jungen eine Puppe und ein gerahmtes Foto. "Du bist nun sieben Jahre alt, und ein Mann", bemerkt der Mann mit dem dunklen Vollbart. "Vergrabe also dein erstes Spielzeug und das Foto deiner Mutter". Der Junge tut wie ihm geheißen. Nach dem das Ritual des "Mannwerdens" vollführt ist, setzen sich Vater und Sohn wieder auf das Pferd. Der Kopfgeldjäger spannt seinen Sonnenschirm auf, und sie reiten Richtung Horizont.
Alleine diese erste Sequenz ist schon überwältigend in jeder Hinsicht. Diese ersten Bilder aus Alejandro Jodorowskys "El Topo" geben einen Vorgeschmack auf das, was da noch kommen wird. Und die kurze Einstellung, in der wir im Vordergrund die vergrabenen Sachen des Jungen, und im Hintergrund die auf die Sonne zureitenden Männer sehen, gehört zu den stärksten, eindrucksvollsten Bilder der gesamten Filmgeschichte. Und hier haben wir auch bereits eine der bemerkenswertesten Fähigkeiten Jodorowskys. Wo andere Künstler ausladende Gemälde bemalt hätten, bannt er seine gesamte Genialität in Form eines "moving picture" auf Zelluloid. Seine Bilder sind nie statisch, nie langweilig - immer aufregend und umwerfend.
Wer die surreale Kraft der Bilder in "El Topo" genießen will, muss sich auf eine Story einstellen, die so noch nie im Western-Genre erzählt wurde. Alejandro Jodorowsky spielt El Topo (auf deutsch: Der Maulwurf). Zusammen mit seinem Sohn zieht er durch die Wüste. Als er an einen blutigen Schauplatz eines Massakers kommt, beschließt er, das sinnlose Töten zu vergelten, und legt sich mit albernen Banditen an. Nachdem er mit den Handlangern abgerechnet hat, nimmt er sich den Drahtzieher vor, einen kränklichen Colonel und kastriert diesen. Geblendet von der Schönheit der Sklavin des Colonels, nimmt El Topo diese mit auf seine Reise und lässt seinen Jungen bei Franziskanermönchen. Der Mann zeigt seiner Freundin Mara das Überleben der Wildnis anhand von biblischen Beispielen. Doch Mara fordert von dem Kopfgeldjäger, er solle sich an den vier Meistern der Wüste zu messen.
In einer Szene gibt der namenlose Gunfighter zu, er glaubt, er sei Gott. Das er falsch liegt, zeigt sich im zweiten Kapitel aus "El Topo". Nachdem er durch Mara verführt, die vier Meister mit Glück töten konnte, wendet die sich wiederum von ihm ab, um ihre wahre Liebe in einem weiblichen Pendant zu El Topo zu finden. In dem Moment, in dem sich Mara zwischen den beiden andersgeschlechtlichen Kontrahenten entscheiden muss, schießt sie auf den "Helden" des Filmes. Hier zeigt sich deutlich, dass Mara die Position der Eva aus dem Alten Testament der Bibel innehat. Das Weib, das den Mann auf den falschen Weg bringt, und sich eher zu der Schlange, dem Satan, hingezogen fühlt.
Im zweiten Teil von "El Topo" findet sich der geläuterte Mann als eine von "Freaks" angebeteten Gottheit wieder. Die Wesen sind halbwüchsige Krüppel, die auch dem Film von Tod Browning hätten entstammen können. Diese sind in einem riesigen Bergwerk gefangen, und möchten ihre Stadt zurückerobern. El Topo beschließt zusammen mit einer Zwergin an die Oberfläche zu gehen, um den Pass freizuschaufeln. Doch in der Stadt herrschen mittlerweile Zustände, wie in Sodom und Gomhorra aus dem Alten Testament. Menschen werden zum Spaß umgebracht, dekadente und fette Frauen ergötzen sich an ihrem sadistischen Spiel mit afrikanischen Dienern, und das Volk jubelt einer inhaltslosen Spaß-Religion zu. Aus dem einstigen Gunfighter wird ein Bettler, der sein Geld mit Slapstick-Vorstellungen an der Straße verdient. Als er in dem lokalen Priester seinen einst verstoßenen Sohn wiederfindet, steht die "Apokalypse" kurz bevor.
Die Geschichte ist voll von religiösen und okkulten Allegorien. Christliche Symbole wechseln sich mit buddhistischen Bräuchen ab. Alle auf einmal zu einem Ganzen zu deuten, scheint schier unmöglich. Wenn Jodorowsky davon spricht, dass er in wie in Trance gerät, wenn er seine Filme dreht, und dass die halluzinogene Zutaten beim Gemisch seiner Drehbücher sicherlich auch nicht fehlen dürfen, dann kann man sich ausrechnen, wie sehr der Filmemacher hier darauf aus ist, dass der Zuschauer wirklich begreift, was sich vor ihm abspielt. Eher soll sich das bizarre Werk auf den Zuschauer stimulierend auswirken. Ein Auslegen der einzelnen Botschaften ist sicherlich denkbar, aber nicht zwingend notwendig.
Jodorowskys Stil zu beschreiben ist schier unmöglich. Er selber sagte einst, er hätte sich durch Sergio Leones Western und dem Corbucci-Werk "Django" zu "El Topo" inspiriert gefühlt. Da das Äußere dieses Filmes an eine völlig unkontrollierte Mischung aus Salvador Dalí, Sam Peckinpah und Sergio Leone, könnte man hier höchstens einen "Freistil" attestieren. Inhaltlich eine pure Meditation aus Motiven aller Weltreligionen und mythischen Western-Traditionen. Hinzukommt Jodorowskys einmalige, wunder-, wunderschöne Flötenmusik, die eine unglaublich innige Stimmung erzeugt. "El Topo" ist ein kathartisches, wie brutales Meisterwerk.
Doch Vorsicht ist geboten. Nicht jeder wird mit diesem bombastischen Bildfeuerwerk aus Blut, Nacktheit und Krüppeln etwas anfangen können. Wenn El Topos Erscheinen 300 Hasen tot umfallen lässt, oder ein armloser Pistolero, einen beinlosen Leidensgenosse auf dem Rücken trägt, dann ist das sicherlich nicht jedermanns Geschmack, aber hundertprozentig grotesk-faszinierende, bedeutungsschwangere Kunst.
"El Topo" ist eine gigantische, surreale Bilderflut, angereichert mit genialer Musik. Jodorowsky kombiniert all sein Können in allen erdenklichen Bereichen. Es ist kein reiner Western, es ist kein reiner Horror. Es ist der Triumph der Kunst über alle Filmstandards und -klischees, mal heiter, mal absurd. "El Topo" ist das Meisterwerk für alle Sinne.