Was Salvador Dalí für die Malerei ist, dass darf man wohl auch Alejandro Jodorowsky (neben Luis Buñuel) für den Film nennen: Der König des Surrealismus. Im Gegensatz zu Dalí benötigte Jodorowsky allerdings lediglich zwei Werke um diesen Ruhm zu erlangen. „El Topo“ ist das erste.
Und tatsächlich: Schaut man sich allein die ersten zwei Minuten aus diesem oftmals als Meilenstein bezeichneten Pseudowestern an, bekommt man sogleich Landschaftsaufnahmen präsentiert, die ohne weiteres aus den Gemälden Dalí’s hätten entsprungen sein könnten – abzüglich zerschmelzenden Uhren oder seltsam grotesken Kreaturen.
In mitten einer endlosen Wüstenlandschaft reitet ein gänzlich in schwarz gekleideter Mann mit Regenschirm und seinem nackten Sohn hinter sich ruhig vor sich hin, bis er anhält, seinen Sohn vom Pferd hebt und ihm einen Teddybären und ein umrahmtes Bild in die Hände drückt.
“You're 7 today. You're a man now. Bury your first toy and the portrait of your mother.”
Als beides im Sand vergraben ist, hebt er seinen Sohn wieder auf das Pferd und reitet mit ihm in Richtung des Horizonts.
Wer nach diesen wenigen, ersten Eindrücken noch nicht fasziniert ist von Jodorowsky’s kraftvoller, einzigartiger Bildsprache, der sollte sich überlegen ob er die folgenden zwei Stunden nicht besser anderweitig nutzen sollte. Alle anderen dürften die nachfolgenden 120 Minuten mit großer Wahrscheinlichkeit wohl nie wieder vergessen, denn „El Topo“ ist so eindrucksvoll wie einzigartig und mindestens ebenso schwer zu klassifizieren oder zu kategorisieren. Von der äußeren Erscheindung her ist „El Topo“ ein Western, doch auch trotz vieler typischer Westernmotive, wie mehreren storybedingten Duellen, kann man ihn keinesfalls als typischen Western bezeichnen und auch sollte die äußere Erscheinung kein Indiz dafür sein, dass „El Topo“ vor allem für Westernfans geeignet ist. Bei jenen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in folge der Ereignisse kopfschüttelnd ausschalten wohl ebenso hoch, wie bei Anhängern anderer Genres.
Auf ihrer scheinbar ziellosen Reise durch die Wüste treffen der namenlose Revolverheld (gespielt von Jodorowsky selbst) und sein Sohn in Folge des Prologs auf ein kleines Dorf, in dem sich kurz zuvor ein schreckliches Massaker zugetragen hat. Riesige Pfützen von Blut haben sich im sandigen Boden angesammelt, Leichen und Tierkadaver sind über alle Wege verstreut. Der Revolverheld – in Folge El Topo (zu deutsch: Der Maulwurf) genannt – beschließt die Dorfbewohner zu rächen. Nachdem dies vollbracht ist, verliebt sich El Topo in eine junge Frau und entscheidet sich, geblendet von ihrer Schönheit, sie anstelle seines Sohnes auf seinem weiteren Weg mitzunehmen. Um seine Liebe zu beweisen soll El Topo nun die vier Meister der Wüste in Duellen besiegen...
“Cry little boy! Cry and then he'll pity you”
Was nach einer runden, abgeschlossenen Story klingen mag, täuscht. Darum klare, nachvollziehbare Geschichten zu erzählen ging es Jodorowsky noch nie, deshalb dürfte „El Topo“ für die meisten auch dementsprechend schwer zugänglich sein und andere neben den oft wirr erscheinenden Ereignisabfolgen schon allein wegen seiner schroffen Brutalität abschrecken.
Wer sich jedoch auf den ungewöhnlichen Bilderrausch einlassen kann, wird ein unvergleichliches Filmerlebnis bekommen, allein jedes Duell ist ein Höhepunkt für sich. Jodorowsky’s Bilder strahlen eine unglaublich intensive Atmosphäre aus und ziehen den Zuschauer sofort in seinen Bann. Und selbst, wenn man nach zwei Stunden immer noch nicht genau weiß, was Jodorowsky einem nun überhaupt sagen wollte, funktioniert „El Topo“ dennoch. Es ist sicher möglich Jodorowsky’s Film klare Deutungsaussagen zuzuschreiben, doch es ist nicht notwendig. Es geht nicht darum, den Film vollständig zu verstehen, alle Symbole klar zu deuten oder alle Anspielungen zu erkennen, der Sinn dieses Films liegt vor allem in seiner surrealistischen Wirkung, er vermittelt seine Botschaften nicht (nur) auf der Verstandesebene, sondern (vor allem) auf der Wirkungs- beziehungsweise Gefühlsebene – demnach sind jene Botschaften und Wirkungsabsichten auch nur schwer in der „Sprache des Verstandes“, also in Worte, übertragbar, sondern lassen sich eigentlich nur mit Gefühlen erfassen.
Allerdings soll nicht der Verdacht aufkeimen, Jodorowsky hätte einen inhaltslosen Film gedreht, dessen optische Finessen dies lediglich geschickt überspielen. „El Topo“ ist ein wahres Sammelsurium an Metaphern, Symbolen und Allegorien, speziell religiöser Natur.
Nichts ist hier willkürlich in Szene gesetzt, alles kann erfolgreich gedeutet werden, wobei sicht oft diverse Interpretationsmöglichkeiten auftun. Vor allem die unterschiedlichen Philosophien der Duellgegner geben viel Stoff zum Nachdenken.
Letztendlich steuert der in drei betitelte Abschnitte unterteilte Film genau auf den finalen Abschnitt „Apocalypse“ zu und hier tritt auch die Maulwurfsymbolik in den Vordergrund.
”The mole is an animal that digs tunnels underground. In search of the sun, it sometimes comes to the surface. When it sees the sun, it is blinded.”
„El Topo“ ist ein Film, der das Publikum gespalten hat und auch weiterhin spalten wird – nicht in der Hälfte sondern in einen Großteil, der nicht viel mit dem Film anfangen werden kann und einen kleinen Teil von Zuschauern, die das Glück haben Zugang zu Jodorowsky’s Meisterwerk zu finden, welcher neben Regie und Hauptrolle auch noch für das Drehbuch und die fantastische musikalische Unterlegung verantwortlich ist und dadurch seine gesamte Talentbandbreite in einen Film gebündelt hat. Das Ergebnis ist kein Film sondern ein Kunstwerk.
10/10