„Hast wieder Scheiße gebaut, hä?“
Anlässlich des 50. Jubiläums der Fernsehkrimireihe „Polizeiruf 110“ spendierte man Halle an der Saale ein neues Ermittlerteam und dem Publikum mit deren Einstand „An der Saale hellem Strande“ eine ganz besondere Episode. Diese wurde vom Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer zusammen mit dem Leipziger Regisseur Thomas Stuber („Kruso“) geschrieben, im November und Dezember 2020 gedreht, und präsentierte am Tag der Erstausstrahlung, dem 30.05.2021, mit Henry Koitzsch (Peter Kurth, „Good Bye, Lenin!“) und Michael Lehmann (Peter Schneider, „Als wir träumten“) ein Duo, das viel zu sehen bekommt, nur keinen „hellen Strand“, wie er im titelgebenden Volkslied aus dem 19. Jahrhundert erwähnt wird.
„Die Hoffnungslosigkeit ist schon die vorweggenommene Niederlage.“ – „Markus Lanz?“ – „Karl Jaspers!“
Vor drei Monaten wurde der Kellner Uwe Baude (Sven Reese) tot im Hauseingang aufgefunden – erstochen durch offenbar gezielte Stiche unter anderem in die Lunge. Die Kripokommissare Henry Koitzsch und Michael Lehmann tappen seither im Dunkeln, kennen weder Täter noch mutmaßliches Motiv. Daher ermitteln sie per Funkzellenauswertung all diejenigen, die sich zum Tatzeitpunkt in Tatortnähe befunden haben müssen, und befragen sie in ihrem Büro. Unter ihnen befinden sich der vorbestrafte Maik Gerster (Till Wonka, „Tschick“), der pensionierte Reichsbahner Günter Born (Hermann Beyer, „Novemberkind“) und die promiskuite Katrin Sommer (Cordelia Wege, „Julietta“). Und dann sind da ja noch Olaf (Sebastian Weber, „Shoppen“) und Silke Berger (Tilla Kratochwil, „Mitten in Deutschland: NSU – Die Täter“), denen der Strom abgestellt wurde. Wer hat eventuell etwas beobachtet oder aufgeschnappt, wer kann hilfreiche Angaben machen…?
„Ich bin nutzlos!“
Das eingangs erwähnte Volkslied erklingt zu Beginn, wird zwischendurch von Katrin Sommer und Koitzsch angestimmt und entlässt schließlich auch aus diesem „Polizeiruf 110“. Dieser überrascht zunächst einmal positiv mit seinem nonlinearen Aufbau aus ineinander verschachtelten Rückblenden und Zeitsprüngen, denn diese erweisen sich nicht als hyperkomplex und störend, sondern als elegantes Stilelement und bei der Stange haltende Erzählweise. Die erste Rückblende führt zum eher mitleidserregend nervösen Maik, dem man das Verbrechen kaum zutraut. Dem offenbar verrückten Versicherungsangestellten, der als nächster vor Koitzsch Platz nimmt, allerdings auch nicht, wenngleich er mit einem Messer herumzufuchteln beginnt – und natürlich innerhalb dieses Sujets nicht sofort erschossen wird, obwohl dies wohl in jeder normalen Polizeiwache in der Realität der Fall gewesen wäre.
„Scheiß Polizeistaat!“
Doch der Realismus äußert sich in „An der Saale hellem Strande“ anders: darin, was er über seine Figuren und ihr Leben preisgibt. Über den ehemaligen Reichsbahner, der mit seiner freien Zeit kaum etwas Besseres anzufangen weiß, als immer wieder heimlich seinen alten Arbeitsplatz aufzusuchen und der vereinsamt mit einer beginnenden Altersdemenz zu kämpfen hat. Über den Vorbestraften, der es trotz guten Willens nicht hinbekommt, seiner Tochter das Geburtstagsgeschenk zu machen, das sie sich wünscht. Über Menschen, die keine festen Bindungen mehr haben, sie entweder gar nicht eingehen wollen oder nicht eingehen können. Zu denen auch Koitzsch gehört, der sich mit einem alten Knacki im Knast trifft und sich mit ihm betrinkt, anschließend betrunken am Steuer von seinen eigenen Kollegen erwischt wird. Und der außerhalb seiner Wache generell einen sehr unbeholfenen Eindruck macht, wie sein Rendezvous mit einer in etwa gleichaltrigen Lehrerin veranschaulicht. Koitzsch ist keinen Deut besser als seine Klientel, er ist selbst einer der ihren: der irgendwie auf der Strecke Gebliebenen, der Unsteten, der Desillusionierten und der Abgebrochenen. Und wenn sein jüngerer Kompagnon Lehmann längst mit den Ohren schlackert, wahrt Koitzsch seine stoische innere Ruhe. Klar wird: Er hat definitiv schon mehr erlebt und gesehen als sein Kollege.
„Mein Vater war Elektriker!“
Viel erlebt und gesehen hat auch Thomas Grawe (Andreas Schmidt-Schaller), „Polizeiruf 110“-Veteran des wendungsreichen Zeitraums 1986 bis ‘95, der für diese Episode reaktiviert wurde: Der ehemalige Ermittler ist zugleich Lehmanns Schwiegervater und weiß, dass es solche Verrücktheiten, wie sie heutzutage – oder vielmehr seit der Wende – an der Tagesordnung sind, nicht gegeben hat. Als reizvolles Motiv ziehen sich unzuverlässige Erzähler(innen) durch diese Episode, die Zeugenaussagen widersprechen häufig den parallel montierten Rückblenden. Die unterschiedlichen Abschnitte der Handlung werden neben Zeitangaben mit Kapitelnamen versehen, die die Titel älterer „Polizeiruf 110“-Episoden zitieren und ihnen somit die Ehre erweisen.
Vieles ist hier melancholisch und traurig, aber auch tragikomisch. Der Tote war offenbar ein Fußfetischist, wie sich herausstellen wird, und innerhalb des reizendes Porträts des Eisenbahners wird man Ohrenzeuge, wie er eine LP mit alten DDR-Zugbetriebsgeräuschen abspielt und sichtlich genießt. Als die heißesten Spuren jedoch ins Plattenbauprekariat zu denjenigen führen, die sich ohne Strom miteinander betrinken und ein gemeinsames Schäferstündchen vorbereiten, übertreibt man es etwas mit dem Humor, indem man diese Figuren fast als reine Karikaturen zeichnet – zumal am Ende dieses Kapitels ein weiterer Toter steht. Dennoch ist es aller Ehren wert, wie sich „An der Saale hellem Strande“ seinen Figuren annähert und ihre Geschichten zu einem Kabinett dessen zusammenführt, was (nicht nur) ostdeutsche Urbanität in den schummrigen Seitenstraßen eben auch bedeutet. Und das ist, ähnlich wie das rustikale Kripobüro, oft nicht mehr taufrisch, eher spröde, mürbe und abweisend.
Diese Stimmung bestimmt die Atmosphäre dieser Jubiläumsepisode, die von entsprechenden Bildern, Ausleuchtungen und Farbgebungen optisch untermauert wird. „An der Saale hellem Strande“ ist derart vollgepackt mit Erzählsträngen – auch ums Privatleben der Ermittler -, dass es zwischenzeitlich etwas überfordernd wirkt. Das Dranbleiben wird mit einem Finale belohnt, in dem wunderbar alle Fäden zusammenlaufen, wenngleich – Achtung, Spoiler! – der Fall unaufgeklärt, der Mörder und sein Motiv unentdeckt bleiben. Da war er wieder, der Realismus dieses „Polizeirufs“, der nicht jedem schmecken dürfte, aber dazu beiträgt, diese Jubiläumsausgabe tatsächlich zu etwas Besonderem zu machen. Ich gratuliere.