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„Wir müssen die Anständigen bleiben in der Öffentlichkeit! Nur so können wir unsere Arbeit retten und die Schließung verhindern!“ – „Und das glaubst du wirklich, oder was?!“

Der bereits 23. Rostocker „Polizeiruf 110“ um das ermittelnde Duo Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Alexander Bukow (Charly Hübner) wurde im August und September 2020, also in den in Deutschland „ruhigeren“ Wochen der Covid-19-Pandemie, gedreht und am 14. März 2021 erstausgestrahlt. Das Drehbuch Florian Oellers inszenierte Stefan Schaller („5 Jahre Leben“), der damit erstmals innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe in Erscheinung trat.

„Sag mal, wen würdest du als nächstes killen?“

Rostocks älteste Werft, die Arunia, wurde erst von einem Großkonzern übernommen und soll nun geschlossen werden, rund 800 Arbeiterinnen und Arbeitern drohen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Besonders pikant: Der Konzern hat staatliche Hilfen eingestrichen und einen satten Gewinn gemacht, an dem auch die Werft mit einigen Millionen beteiligt war. Finanzchefin Anja Ritter (Lea Willkowsky, „Nur eine Frau“) erläutert jedoch, dass die Rendite zu gering sei, und Geschäftsführer Paul Lettcke (Lucas Prisor, „Im Feuer“) hat seine Schäfchen längst im Trockenen. Eine schwierige Situation für die Betriebsräte Evin Yilmaz (Sara Fazilat, „Die Füchsin“) und Hannes Hegeloh (Alexander Hörbe, „Kleinruppin Forever“), die der Belegschaft noch zu vermitteln versuchen, das Unternehmen könne gerettet werden. Schwierige Situationen ist die alleinerziehende Mutter Sabine Brenner (Luise Heyer, „Der Junge muss an die frische Luft“) gewohnt, ohne sich je an sie gewöhnt zu haben. Ihre Anstellung als Schweißerin wurde längst wegrationalisiert, ihre Ersparnisse sind dahin, seit sie sie vermeintlich sicher angelegt hatte. Sie hat mehrere Umschulungen hinter sich und verdingt sich nun als Zeitarbeits-Servicekraft in der Arunia-Werft, wo sie quasi unsichtbar ist, wenn sie sich nicht gerade anhören muss, dass sie die Zitronen fürs Mineralwasser anders schnitzen solle. Leben kann sie davon nicht, wie so viele ist sie Aufstockerin. Das Arbeitsamt behauptet, nichts mehr für sie tun zu können, ihre Bank dreht den Geldhahn zu. Ihr Sohn Jonas (Ilja Bultmann, „Detour“) soll es einmal besser haben als sie, doch dessen Lehrerin verweigert ihm trotz guter Noten die Gymnasialempfehlung, da sie Sabine nicht zutraut, ihn in seiner schulischen Laufbahn ausreichend unterstützen zu können. Sabine ist am Ende ihrer Kräfte angelangt und will mit allem schlussmachen. Die Pistole hat sie schon angesetzt, doch als sie ihren Nachbarn Jörg Funkel (Helge Tramsen, „Das Gesetz sind wir“) wieder einmal seine Frau terrorisieren hört, entscheidet sie sich spontan anders…

„Wir sind das Arbeitsvieh, die Gefickten.“

Dieser „Polizeiruf 110“ nimmt sein Publikum mit in Sabines Alltag, ihr Leben, ihre bedrückende Welt. Parallel dazu erhält man Einblicke in den Arbeitskampf der Werftbelegschaft, ihren Streit mit dem Betriebsrat und die Machenschaften hinter den Kulissen, während auf der horizontalen Erzählebene sich König und Bukow – endlich, möchte man meinen – als Liebespaar versuchen. Zuhause gibt Bukow ein kleines Fest seinem verstorbenen Vaters zu Ehren, zusammen mit König singt er eine Rio-Reiser-Karaoke, seine Halbschwester Melly (Lina Beckmann, „Tödliches Comeback“) ist extra zu Besuch gekommen. Erst relativ spät werden sie mit Sabines erstem Opfer konfrontiert, dem bald weitere folgen werden. Als Zuschauer(in) hat man gegenüber der Polizei einen enormen Wissensvorsprung, kennt Täterin und Tatumstände, wird gar ein wenig zu ihrer Komplizin – ihr Frust und ihre Wut lassen sich sehr gut nachvollziehen und ihre Opfer sind wahrlich keine Sympathieträger. Dies ändert sich erst im Finale, das in seinem Fatalismus zwar konsequent, aber auch etwas unbefriedigend ist.

Bis dahin zieht Schallers Film aber sehr gekonnt zahlreiche Register eines Sozialdramas, die die Krimihandlung dominieren. Es sieht düster und aussichtslos aus, Rostock wirkt trostlos und trist, jeder ist sich selbst der Nächste und wer in der gesellschaftlichen Hackordnung auch nur ein Stückchen über Sabine steht, lässt sie dies spüren und scheint alles dafür zu tun, dass dem auch so bleibt. Luise Heyer spielt ihre Rolle mit einer fast besorgniserregenden Glaubwürdigkeit, unterstützt von einer Kamera, die ihre leisen Emotionen in zahlreichen Nahaufnahmen einfängt. Heyer bildet hier die Speerspitze eines generell sehr eindringlich spielenden Ensembles.

Die sozialen Verwerfungen, denen sich Sabine ausgesetzt sieht, schlagen von Verzweiflung in Hass und Gewalt um. Sicherlich ist nicht intendiert, Sabine als isoliertes Einzelschicksal zu betrachten, vielmehr fungiert die Figur als Stellvertreterin für im kapitalistischen Klassensystem Abgehängte. Deren durch die Hartz-Gesetze und ähnliche Gängelungen ohnehin schon prekäre Situation hat die Covid-19-Pandemie noch einmal verschlimmert, ihren Abstieg und ihre Ausbeutung beschleunigt. Vor einer Eskalation, wie sie am Beispiel Sabines hier durchexerziert wurde, aber auch generell vor den negativen Folgen derartiger Abwärtsspiralen möchte dieser „Polizeiruf 110“ warnen, was ihm über weite Strecken gelingt. Einmal mehr deutlich wird: Eine Korrektur des politischen Systems hin zu einem sich stärker am Sozialismus orientierenden Gesellschaftskonzept scheint unabdingbar und überfällig.

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