Zeit, die Welt (und das Kino) zu retten
Auf „Tenet“ lastet wohl mehr Druck, als auf jedem anderen Film seit ewigen Zeiten. Als ob das mächtige Budget, die gegebenen Freiheiten, die prestigeträchtigen Beteiligten, der Name und die Marke Nolan, die damit verbundenen extrem hohen Erwartungen und das komplizierte Konzept nicht schon genug Gewicht in den Rucksack packen - jetzt soll diese abstrakte Agentengeschichte zwischen Zeit, Schicksal und Krieg quasi im Alleingang das Kino retten oder zumindest wieder Hoffnung geben, es einigermaßen auf Spur zu bringen...
Ich wünsche mir natürlich, dass das klappt, zweifele daran aber gehörig, da „Tenet“ meiner Meinung nach der deutlich komplizierteste, unübersichtlichste, schwer greifbarste und (gerade auf den ersten Blick) auch kühlste Nolan bisher ist - wodurch sich eine Menge Zuschauer vor den Kopf gestoßen fühlen werden. Dennoch empfehle ich einen Kinogang auf jeden Fall und bin immer noch gehörig durch den Wind und am schleudern im Kopf... Grobe Handlung: Ein Agent wird von einer geheimen Organisation angeworben und mit dem Auftrag betreut, etwas Schlimmeres als den dritten Weltkrieg zu vereiteln. Und dabei spielen Objekte eine große Rolle, die sich scheinbar rückwärts in der Zeit bewegen können, entgegen unserer gewohnten Richtung...
Nolan geht selten Kompromisse ein, er denkt riesig, macht noch unbedingte Filme für's Kino, bringt immer wahnsinnige Konzepte, ist ohne Frage mit dicken Eiern gesegnet, ein schlauer Mann und hat zudem noch seinen eigenen Stil. Und eine schiere Obsession mit dem Thema Zeit. Und in all diesen Beziehungen ist „Tenet“ wahrscheinlich sogar seine Krönung. Die Besetzung ist groß, das Konzept noch größer, die Bilder oft genug atemberaubend, sowas hat man einfach noch nie gesehen. Nichtmal ansatzweise. Egal, wieviel man schon meint erlebt zu haben. Das verschlägt allein auf technischer Ebene den Atem. Und genau das will man doch erleben. Zudem ist der pushende, kratzende Score von Ludwig Göransson Gänsehaut pur, ich mag sogar den trappig-housigen Titeltrack von Travis Scott, selten wollte/musste man einen Film weitere Male sehen und spätestens wenn man das Konzept sich endgültig entfalten sieht und ansatzweise begreift, weiß man, dass das wieder dieser ganz gewisse Nolan-Touch und etwas ganz Besonderes ist. Weitere Highlights sind ein schelmischer Pattinson, eine wunderschöne Elizabeth Debicki und ein furchteinflössender Kenneth Branagh. In all diesen Komponenten hält „Tenet“, was man sich erhofft. Übertrifft und unterläuft sogar Erwartungen spektakulär. Er hat an vielen Ecken, auf etlichen Ebenen, das Zeug zum direkten (polarisierenden!) Klassiker, für Doktorarbeiten, für ellenlange Gespräche unter Filmfans und Freunden. Und das alleine ist nach einer Zeit der Entbehrungen und Verschiebungen alle Ehre, jeden Hype, viel Lob wert.
Wo „Tenet“ ein kleines Stück weit strauchelt, zumindest jetzt nach meinem ersten Durchgang, ist in der B-Note und im emotionalen Bereich. Nicht nur kann der hochkomplexe Thriller viele Leute überfordern und gar verärgern, er stolpert manchmal auch gefühlt etwas über seine eigenen Füße, Erklärungen, Spielregeln und Abkürzungen. Und das reicht von einem manchmal sehr sprunghaften Schnitt bis zu zu wenig Luft zum Atmen und für Erklärungen. Dazu kommt eine massive Unterkühltheit, die durch fehlende Übersicht und stockendes Verständnis bei nahezu jedem Zuschauer nochmal verstärkt werden kann. Doch das hat man auch einigen Werken von Tarkovsky und Kubrick vorgeworfen - und was aus denen meist wurde, dürfte jedem bekannt sein... Insgesamt ist „Tenet“ ein großspuriger, etwas selbstverliebter und sprunghafter Mindfuck, der tiefen Eindruck bei mir hinterlassen hat, den ich schnellstmöglich nochmal sehen möchte und über den noch Jahre gesprochen werden wird. Selbst wenn er nicht im Alleingang eine ganze, hundertjährige Branche rettet... Oder vielleicht ja doch. Zeitlos? Dehnbar? Flexibel? Vorbestimmt? In jedem Fall einzigartig und unvergleichlich!
Fazit: groß, größer, „Tenet“. Ambitioniert, ambitionierter, „Tenet“. Wichtig, wichtiger, „Tenet“. Was für ein Brecher! Zwar nicht perfekt - aber dennoch positiv diskussionswürdig und jede Mehrfachsichtung wert! Christopher Nolan hat es wieder gemacht... und vielleicht heftiger und fordernder denn je. „Tenet“ ist großes Kino - und nie war diese Floskel unbedingter als hier. Nehmt alle Filme, die ihr gestreamt habt in der letzten, schweren Zeit. Geht dann ins Kino und guckt „Tenet“. Und sagt mir bitte, dass dieses Mammutprojekt alle anderen dieses Jahr geschauten Titel zusammengenommen in den Schatten stellt. „Tenet“ muss man einfach sehen. Im Kino. Um jeden Preis. Da gibt's keine Ausreden. Und danach ausführlich darüber reden und philosophieren, wohl ziemlich flugs noch ein Ticket kaufen, um mehr zu raffen und Details zu entdecken. Und damit ist auch seine „Mission“ schon jetzt vollkommen erfüllt. Beeindruckend!