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"Ich will das meiste der Phantasie meiner Leser überlassen. Da ist zum Beispiel eine Frau in ihrem Haus. Nachts, ganz allein. Sie weiß, die Türen sind verschlossen, die Alarmanlage ist an. Trotzdem wird ihr unheimlich und dann hört sie Schritte..."

Einige Details werden auch hier der Phantasie überlassen, gewisse Bilder nicht in der expliziten Vollendung gezeigt, sondern vorher die Abblende oder das Verharren auf der Andeutung gewählt, ohne sich deswegen gleich mit Einbildungsvermögen oder Erfindungsgabe schmücken zu können. Man ist auch kein Mary Higgins Clark, sondern inoffizieller Nachfolger, in der Annäherung an Thema und Ausführung fast schon das direkte Gegenstück, das ergänzende Nebeneinander zum gleichjährigen, nur zwei Monate zuvor in die Kinos entlassenen Insanity. Wo dort eine junge Ehefrau in Abwesenheit ihres Mannes in einem Haus noch leerstehender Umgebung von einem Psychopathen attackiert und alleingestellt dem plötzlichen Bedrohung erwehren musste, wird hier praktisch dieselbe Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung verfertigt. Ein Rückzug in die Schutz- und Trutzburg der moralischen und sozialen Verlässlichkeit, die durch das Durchsickern des äußeren Übels vom einstigen Kokon des Familienfriedens selbst zur Wolfsgrube wird.

Als Aufhänger des unbedarft Wiederholten hier nur zusätzlich mit einem Gimmick versehen, der die Perfidität des Eindringens in die eigenen vier Wänden, die heiligen Hallen der Intimsphäre, noch weiter zuungunsten der Schutzlosen Frau beinhaltet. Wo dort das Gleichgewicht von der erst Ahnungs-, dann Hilflosen gegenüber dem heimtückischen, unter Tarnung operierenden Eindringling schon beizeiten ausgehebelt war und die Chancen auf ein Entkommen selbst bei aktiver Gegenwehr so gut wie Null und nichtig erscheinen, wird hierbei selbst die Möglichkeit der Verteidigung gegen den geistesgestörten Angreifer Sam Chu [ Anthony Wong ] von vornherein zerstört. Die Attackierte Mrs. Jack Ng [ Veronica Yip ] – das Drehbuch gesteht ihr im Schatten ihres Mannes, des Herzspezialisten Dr. Jack Ng [ Anthony Chan ] keine namentliche Identität zu, was im Laufe des Filmes durchaus plausibel erscheint – ist nämlich blind. Rettungslos verloren.

Vorübergehend zwar nur; der originalübersetze Titel bezieht sich sowohl auf die Zeitspanne der inneren Belagerung als auch der Heilungsfrist, die ihre Augen nach einer Operation in den USA benötigen, um wieder die Sehfähigkeit zu erlangen. Das stellt weitere Einschränkung ihrer eh schon benachteiligten Wehrfähigkeit dar, ist sie doch ungewohnt im Umgang mit dem Blindenstock und muss sich abrupt von Heute auf Morgen an die plötzliche Düsternis, einhergehend mit der noch nicht eingetretenen Verschärfung von Orts-, Tast- und Hörsinn anpassen. Viel Übung bleibt ihr dafür nicht, genauso wenig wie ihr keine Zeit gegeben ist, ein Vertrauen in die nunmehr aufgelöste Umgebung, das abrupte unentwirrbare Labyrinth zu entwickeln oder die Stärken des Sehbehinderten in etwaiger Dunkelheit auszuspielen. Nur der Hoffnungsschimmer darauf, dass die 72h Frist zu ihrem Gunsten wirkt. Ein Fünkchen Lichtblick bei einer Krankheit, die gewöhnlicherweise fest stehendes, dauerhaftes Merkmal darstellt, hier aber vielmehr einen therapeutischen Ansatz findet: Die beginnende Skepsis bezüglich aller Aussagen, die von sich beteuern, gleichermaßen ewig und selbstverständlich zu sein. Die Aufbruchsstimmung der Protagonistin herauszufordern. Ihr die Chance zu geben, im letztlich wohlwollenden Rachefeldzug endlich den rehabilitierenden Gegen- und Befreiungsschlag gegen die labil peinigende Zerrissenheit zu führen. Retribution Sight Unseen.

Das Augen öffnen im Sinne von auf Herz und Verstand hören als erster Schritt der Erkenntnis, der Mrs. J aus dem Schatten ihres übermächtigen Ehemannes hinausführt und ihr die Gelegenheit gibt, die Dinge so zu sehen, wie sie wahrhaftig sind statt sie nur als das hinzunehmen, was man gerne glauben möchte. Garantien, Gewährsmann und andere Sicherheitsgeber existieren nicht mehr, sondern nur noch eine Wirklichkeitskonstruktion. Die Blindheit war Ende der Achtziger / Anfang der Neunziger im Genre des Thrillers die periodisch zentrale Metapher für die Phase der zunehmend komplexen Unübersichtlichkeit und vielschichtig verschwommen Gesellschafts- und Beziehungsstrukturen, in der scheinbar alltägliche Sicherheiten und die unverlässlich gewordene Empfindung, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können den Blick auf das Risiko versperren. Die Abkehr vom "sehenden Auges in Gefahr begeben" und die Hochkonjunktur des sich bald rächenden "blindlings Vertrauen", was folgerichtig seine Vertreter wie Blind Fear, Blindness, Afraid of the Dark, Jennifer Eight und Blink fand, in der man im Nebel von Raum und Zeit weder auf den Gesetzesvertreter bauen noch sich auf die nächste Verwandtschaft unbesonnen kritiklos einlassen sollte.

Generell arbeitet der Film, der ebenso wie sein übermächtig großes Idealvorbild Wait Until Dark gut und gerne einem Theaterstück entsprungen oder nachträglich auf Grund zahlenmäßig geringster Besetzung und einer feststehenden Raumwirkung in eines umgewandelt werden könnte, mit der künstlichen Verzögerung verschlungener Pfade. In den Fesseln einer genrebedingten Entwicklungsdiktatur [ Ehemann auf Dienstreise, Hausmagd auf Erledigungen, Telefon tot, Schlüssel unauffindbar, Dorfpolizist zu unbekümmert etc. ]. Und dem buchstäblich langsamen Antasten voyeuristischer Triebe, das im POV-shot von eskalierender Beobachtung, Verfolgung, Annäherung, Bedrohung seine gebührliche Intensivierung bis hin zur minutenlang hinausgezögerten Nachstellung der subjektiven Kamera findet; natürlich auch direkt rein in Tabubezirk Bad, was der wartenden Sexploitation-Klientel erste heimatverbundene Nackedei-Anhaltspunkte gibt. Die Motive des Täters bleiben lange im Geheimen, werden unter Lug und Trug der Tarnung verborgen oder gleich unter zuweilen formvollendeter [unfreiwilliger?] Anarchokomik versteckt; sowieso gelingt dem weitgehend unebenen, teilweise inkompetenten Drehbuch, dem es nicht nur am innerlichem Wert mangelt, durch seinen gleichfalls disziplinlosen Antagonisten immerhin das Gefühl der Unausgeglichenheit oder auch Unberechenbarkeit.

Darsteller Anthony Wong, der seine Konkurrentin, das Sex-Starlet Veronica Yip nicht nur in jeder gemeinsamen Szene, sondern auch außerhalb des Bildes noch nachträglich wirkend permanent an die Wand spielt, formuliert hier eindrucksvoll sein Vermögen, eine laute, stumpfe, niveaulose und formal stereotypisierte Handlung ein ganzes Stückchen weit interessanter zu machen. Die Gabe, von einer Sekunde auf die nächste schlagartig Angst und Schrecken zu erzeugen, auch wenn oder gerade weil er sich vorher schon slapstickartig lächerlich gemacht oder in die grimassierende Übertreibung begeben hat. Wong und sein pausenlos wankelmütiges Schaubühnen-Spiel von Naivität über Schalk hin zur comigal gemäßigten Gewalt stellen eine Progression dar, die Regisseur Chan Wing-Chiu ermutigt, die Spannungsschrauben mit den Mitteln der Aufbauschung fern jeder nachvollziehbaren Denklehre bis hin zum Übergang in den einflusslosen Exzess anzuziehen. So ist nicht nur der bizarre Showdown, in dem mit Schüreisen und Blumenvasen aufeinander eingeschlagen, Bleistifte in den Rücken getrieben und mit Feuerzeug, Spraydose und explodierender Mikrowelle hantiert wird, eine Anhäufung weitgehender Ratlosigkeit, ein Auswuchs an mauen bis mittelprächtigen Genresituationen, die nahe der Parodie und ohne Gespür für die Dramaturgie des Ausgeliefertseins abgeliefert werden.

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