„Dieser Fall ist extrem heikel.“
Der dritte „Tatort“ des Göttinger Ermittlungsduos Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) führt ins neurechte Milieu. Das Drehbuch Daniela Baumgärtls und Florian Oellers verfilmte Franziska Buch, die zuvor bereits mit der Inszenierung des ersten Lindholm/Schmitz-Falls „Das verschwundene Kind“ in der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütiert hatte. Am 26. April 2020 erfolgte die Erstausstrahlung in der ARD.
„Sie sind eine verachtenswerte Frau!“
Juristin und Uni-Dozentin Sophie Behrens (Jenny Schily, „Die Stille nach dem Schuss“) hat sich in den 1980ern und ‘90ern selbst an der feministischen Bewegung beteiligt, schleudert jetzt jedoch Standardwerke feministischer Literatur verächtlich ins Auditorium. Längst ist die offen lesbisch lebende Frau mit ihren mittlerweile reaktionären bis rechtsextremistischen Ansichten zum Vorbild für die Neue Rechte geworden, die Behrens‘ Karrieresprung zur Bundesverfassungsrichterin auch als politischen Teilerfolg feiert. Mit Unbehagen verfolgt deren politischer Gegner diese Entwicklung, während Behrens‘ Auftritt an der Universität versucht ein junger Mann einen Farbbeutelanschlag auf sie. Gestoppt wird er jedoch von Behrens‘ studentischer Hilfskraft Marie Jäger (Emilia Schüle, „Simpel“), Mitglied der rechtsextremen „Jungen Bewegung“ und hippe, attraktive Videobloggerin, die pseudofeministische Standpunkte mit ausländer- und islamfeindlicher Propaganda vermischt. Am Abend wird Marie in einem Waldstück getötet, jemand schlitzt ihr die Kehle auf. Die Ermittlungen ergeben, dass Behrens eine Affäre mit Marie hatte und Marie zugleich von einem Stalker verfolgt worden war, eine entsprechende Anzeige gegen Unbekannt liegt der Polizei vor. Für die rechte Szene ist klar: Der Stalker ist der Mörder und die Polizei vertuscht dessen Migrationshintergrund. Während der nationalistische Pöbel das Internet mit Lügen und Hetze überzieht, ermitteln die Kommissarinnen Charlotte Lindholm und Anaïs Schmitz in verschiedene Richtungen und schauen sich die Mitglieder „Jungen Bewegung“ ebenso genauer an wie Maries Privatleben und ihre Beziehung zu Behrens…
Uralte Ressentiments, ein antiquiertes Menschenbild und Rückwärtsgewandtheit bis ins dunkelste Kapitel deutscher Geschichte hinein – verdorbener Wein in neuen Schläuchen ist das, was sog. neurechte Aktivistinnen und Aktivisten populistisch verbreiten und damit den Nährboden für Hass und Gewalt gegen Minderheiten sowie eine vergiftete gesellschaftliche Diskussionskultur schaffen. Dabei geben sich sie sich im krassen Widerspruch dazu demonstrativ modern, hip und jugendlich, führen spektakuläre, aufsehenerregende und medienwirksame Aktionen durch und versuchen, sich als eine Alternative zu präsentieren, die lediglich mit „politisch korrekten Denkverboten“ breche. Tatsächlich findet sich diese Klientel zunehmend auch im bildungsbürgerlichen und studentischen Milieu, wo sie ihrem Wirken einen intellektuellen Anstrich zu geben versucht. In dieses unappetitliche Wespennest sticht dieser „Tatort“. Er integriert nicht nur private Handyvideos des Mordopfers in die audiovisuelle narrative Gestaltung, sondern auch Auszüge aus seinem Videoblog, in dem Marie über Gewaltverbrechen von Immigranten gegen deutsche Frauen schwadroniert, aber geflissentlich verschweigt, wie viele Deutsche in unschöner Regelmäßigkeit Gewalt gegen Frauen ausüben.
Die neurechte Argumentation wird sehr realitätsnah aufgegriffen und verarbeitet, ihre Folgen wie Hass- und Hetzkommentare in sozialen Internet-Netzwerken werden über die Kamerabilder gelegt. Moderne Medien und ebensolche Technik spielen generell entscheidende Rollen in diesem Fall: So flucht die Polizei über den von Marie verwendeten Krypto-Messenger und – und das ist einer der größten Schwachpunkte dieses „Tatorts“ – kann den Fall letztlich nur lösen, indem sie diesen geknackt bekommt. Nein, verehrte Drehbuchautor(inn)en, Polizeiarbeit muss auch ohne solche Maßnahmen funktionieren und es ist gut und sinnvoll, dass es verschlüsselte Kommunikationsmittel gibt – auch wenn sie mitunter von Verbrecher(inne)n missbraucht werden.
Vieles verlagert dieser „Tatort“ auf die persönliche Ebene. So stellt sich heraus, dass nicht nur Maries Beziehung zu Behrens eine Rolle spielt, sondern dass auch zu zwei männlichen Personen bedeutsame persönliche Beziehungen existierten, die im weiteren Verlauf aneinandergeraten werden. Auch Lindholm und Behrens kennen sich schon länger, sehr lange, von früher. Behrens stellt Lindholms Lebensentwurf infrage und analysiert deren momentane Lage recht genau, um sie anschließend mit den ihr immanenten Widersprüchen zu konfrontieren. Nein, als voll berufstätige Frau ist die Situation als alleinerziehende Mutter eines Kinds alles andere als einfach und weit entfernt vom Idealbild einer sowohl beruflich Karriere machenden als auch ihrer Familie vollauf gerecht werdenden Frau. Die Lösung solcher und ähnlicher Dilemmata ist indes natürlich nicht in antiemanzipatorischen Rückwärtsrollen, sondern im sozialen Bereich zu suchen, um den Status alleinerziehender Frauen zu verbessern – unabhängig ihrer Herkunft. Angesichts bisweilen etwas wie aufgesagte Kurzvorträge wirkender Argumentationen Lindholms gegen das krude Geschlechter-, Gesellschafts- und Weltbild der Jungfaschos erscheint das Schweigen des Dialogbuchs an dieser Stelle etwas befremdlich. Lindholm soll sich ertappt und ein Stück weit verstanden fühlen, aber weshalb ist sie plötzlich so auf den Mund gefallen? Vielleicht ist sie in dieser von der Melancholie und auch Wut Behrens‘ geprägten Szene auch einfach nur müde.
Auf rein persönlicher Ebene spielt sich auch die sich offenbar anbahnende Dreiecksbeziehung zwischen Rechtsmediziner Nick (Daniel Donskoy) und Anaïs Schmitz und Lindholm ab: Dass Nick und Anaïs Schmitz ihren Hochzeitstag feiern, hält Nick und Lindholm nicht davon ab, miteinander zu schäkern und zu flirten. Es lässt sich unschwer erahnen, worauf man die Zuschauerschaft damit vorbereiten möchte. Bitte nicht!
So gar keine persönliche Ebene will sich hingegen zwischen den Mitgliedern der „Jungen Bewegung“ und Kommissarin Schmitz einstellen. Das kann man ihr nicht verübeln, denn so abgeklärt sich das ihr gegenübersitzende Trio zunächst auch geben mag – bei Sven Ulbrich (Leonard Proxauf, „Der Kommissar und das Meer“) fällt alsbald die Maske und er beleidigt Schmitz offen rassistisch, die wiederum nicht zulässt, dass sie dessen Ausfälle berühren, zumindest zeigt sie dies nicht offen. Schmitz‘ und Lindholms Vorgesetzten jedoch gefällt die Entwicklung der Falls gar nicht, weshalb er den Beamtinnen entzogen und dem LKA überantwortet wird – was Lindholm und Schmitz indes nicht davon abhält, auf eigene Faust weiter zu ermitteln. Die sich daraus ergebenden Erkenntnisse bringen nicht nur einen weiteren Videoblog ins Spiel, sondern nivellieren scheinbare Unvereinbarkeiten und lassen sich als Plädoyer für den Abbau ideologischer Scheuklappen verstehen. Der damit einhergehende Aufruf an politische Gegenpole, miteinander die Diskussion zu suchen, mutet jedoch reichlich naiv an. Zur Ehrenrettung sei gesagt, dass sich dies hier lediglich in einem amourösen Mikrokosmos abspielt und kein Anspruch auf Allgemeingültig erhoben wird.
Jedoch wird eben jener personifizierte politische Gegenpol zu Marie lediglich derart grob skizziert, dass letztlich einige Fragen offenbleiben und sein Handeln nicht immer vollumfänglich nachvollziehbar ist. „Neurechter“ Argumentation hingegen wird recht viel Platz eingeräumt und, wie bereits angerissen, nicht immer direkt widersprochen. Derartige politische Themen bis hin zur Täterfrage im Mordfall auf persönliche Beziehungsebenen herunterzubrechen, ist beinahe charakteristisch für viele Beiträge zur „Tatort“-Reihe und sicherlich streitbar. In diesem Falle bietet es jedoch die durchaus überzeugend genutzte Möglichkeit, das gesellschaftlich beschämenderweise noch immer hochgradig relevante Thema des Femizids aufzugreifen, womit sich der Kreis zu Maries Videoblog-Beitrag schließt. Ferner lässt sich zumindest zeitweise eine Verbindung reaktionärer bis rechtsextremistischer Einstellungen mit persönlichem Frust und Realitätsverlust/-verweigerung erahnen – und die Chance ihrer Überwindung durch stärkere, verbindende Kräfte. Die Kitsch-, Klischee- und Krawallarmut, mit der dieser im Vorfeld gut recherchierte „Tatort“ dabei vorgeht, fällt ebenso positiv auf wie die starken (und stark gespielten!) weiblichen Rollen, die mit ihren Paradoxien zum Nachdenken anzuregen, ohne sie vorzuführen. Dennoch handelt es sich bei „National feminin“ um eine gewagte Gratwanderung, die vielleicht nicht immer die richtige Balance findet. Denn wer hier eigentlich eine Verfassungsrichterin wird und was das für die Bundesrepublik Deutschland bedeuten könnte, gerät am Ende ziemlich in Vergessenheit.