Review

„Was seid ihr eigentlich für Scheißeltern?“

„Tatort“ Dresden Nr. 8 für Kommissarin Karen Gorniak (Karin Hanczewski), „Tatort“ Nr. 3 für ihre Kollegin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel): Der Fall „Die Zeit ist gekommen“ wurde im Sommer 2019 unter der Regie Stephan Lacants („Fremde Tochter“), der damit innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte, nach einem Drehbuch Stefanie Veiths und Michael Comtesses gedreht und am 05.04.2020 erstausgestrahlt.

„Täter sind manchmal irrational!“

Familienvater Louis Bürger (Max Riemelt, „Der rote Kakadu“) hatte es nicht leicht: Drei Jahre musste er im Knast absitzen, weil er – nach eigener Aussage – zu Unrecht verurteilt worden war. Nun scheinen sich die Ereignisse zu wiederholen: Vor seinem Haus wird ein Polizist tot aufgefunden, offenbar erschlagen mit dem Baseballschläger Louis‘ zwölfjährigen Sohns Tim (Claude Heinrich, „8 Tage“), der in einem Jugendheim lebt. Gorniak und Winkler verhaften den unter dringendem Tatverdacht stehenden Mann, der sich doch eigentlich zusammen mit Tim und seiner Frau Anna (Katia Fellin, „Supernova“) ein neues, glückliches Leben aufbauen wollte. Nach einer Selbstverletzung in der Untersuchungshaft wird er auf die Krankenstation verlegt, von wo aus er mit Annas Hilfe fliehen kann. Doch als sie Tim aus dem Heim abholen wollen, um sich gemeinsam nach Kroatien abzusetzen, ist die Polizei ihnen bereits auf den Fersen. Die Bürgers verschanzen sich im Heim und nehmen das Personal als Geiseln, während Kripoleiter Michael Schnabel (Martin Brambach) das Gebäude umstellen lässt. Ist Louis der Mörder oder sagt er die Wahrheit, wenn er unschuldig zu sein behauptet? Und wenn er tatsächlich kein Mörder ist: Wird er es in dieser aussichtlosen Lage bleiben…?

Der Film beginnt achronologisch mit seiner schmerzhaftesten Szene: der Selbstverletzung Louis Bürgers in der U-Haft mittels einer angespitzten Zahnbürste, die er sich in Ohr rammt. Die Aufmerksamkeit des Fernsehpublikums dürfte diesem „Tatort“ damit sicher sein, danach geht es zwei Tage in der Zeit zurück und man lernt die Figuren vor dem Todesfall und vor der Verhaftung kennen. Das Ensemble wird erweitert um Louis‘ Schwager Holger Schanski (Karsten Mielke, „Vermisst in Berlin“) und dessen Frau Lilly (Bea Brocks, „Ostfriesensünde“), die ein ambivalentes Verhältnis zu Louis pflegen. Louis Bürger wird als sehr emotionaler, auch aufbrausender Typ charakterisiert, der bei seiner Verhaftung der Verzweiflung nah ist. Zudem existiert nicht nur bei ihm, sondern auch bei seiner Frau ein seit seiner zurückliegenden Verurteilung tiefverwurzeltes Misstrauen in Polizei und Justiz. Aus dieser Konstellation ergibt sich die Geiselnahme, die spontan entsteht und als letzte Möglichkeit angesehen wird, dem Zugriff der Polizei zu entkommen.

Fortan entwickelt sich eine intensiv inszenierte, einige nervenaufreibende Spannungsszenen ausspielende Handlung, bei der die Anspannung aller Involvierten sicht- und spürbar wird. Sommerhitze und Stress produzieren Schweißperlen, die die Kamera ebenso einfängt wie die immer verzweifelter werdende Lage im Kinderheim, aus der immer nervösere Geiselnehmer resultieren – zumal weder Geisel Nico (Emil Belton, „Unter dem Sand“) noch die zunächst von den Bürgers unbemerkten Bewohnerinnen Verena (Emilia Pieske, „Millennials“) und Larissa (Paula Donath, „Burg Schreckenstein“) sich in ihre defensiven Rollen einzufinden gewillt sind. Nico versucht immer wieder, Louis zu überrumpeln, während die Mädchen sich verstecken. Die Einsatzkräfte wiederum versuchen sich am gewagten Spagat zwischen Kontrolle und Deeskalation auf der einen und Beendigung der Situation durch Spezialkräfte auf der anderen Seite.

Der eigentliche Täter lässt sich hingegen recht schnell erahnen, doch die Täterfrage steht nicht im Vordergrund. Stattdessen mischt sich die Spannung mit einer Dramatik, die keine einseitige Parteiergreifung durch das Publikum erlaubt. Die Unberechenbarkeit von Menschen in Extremsituation wird zur großen Unbekannten und die Frage ist, ob es der Polizei gelingen wird, den Fall schnellstmöglich – also noch während der Geiselnahme – zu lösen und das Vertrauen der Bürgers zurückzugewinnen. Max Riemelt meistert dabei die große Herausforderung, Täter und Opfer zugleich zu spielen. Getrieben von der Sehnsucht nach einem besseren Leben und einem echten Neuanfang setzt Louis alles auf eine Karte und profitiert vom sensiblen, besonnenen Umgang der Kripo-Kommissarinnen mit der Situation, die auch bereit sind, eigene Fehler in Kauf nehmen, statt die Verantwortung ans SEK zu übertragen. Dem Realismus bleibt dieser „Tatort“ insofern verpflichtet, als am Ende mitnichten alles eitel Sonnenschein ist. Auch Schüsse fallen und Menschen werden verletzt.

Louis Bürgers Vorstrafe bleibt indes ungeklärt, was genau damals geschehen ist, bleibt diffus. Die Chance, eine größere Geschichte über Justizversagen und was es mit Menschen macht zu erzählen, bleibt leider ungenutzt, der „Tatort“ fokussiert sich ausschließlich auf eine individuelle dysfunktionale Familienkonstellation und entlässt Polizei und Justiz größtenteils aus der Verantwortung, indem sie selbst zu einer Art Opfer der verqueren Situation stilisiert werden. Dennoch ist „Die Zeit ist gekommen“ ein in sich stimmiger, fesselnder und hochemotionaler Krimi/Thriller geworden, der schauspielerisch nicht nur vom expressiven Riemelt lebt, sondern mit seinem vollen Ensemble zu überzeugen weiß, insbesondere auch mit der auf sehr natürliche Weise attraktiven, mimische Zwischentöne beherrschenden Katia Fellin, die sich hiermit für weitere größere Rollen empfiehlt.

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