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Mit den „Avengers“-Filmen „Infinity War“ und „Endgame“ haben die Russo-Brüder Box-Office-Rekorde gebrochen. Doch nach Erfolgen im Superheldenfilm bringen sie auch klassische Actiongenres wieder auf die Leinwände und Fernsehschirme. Nach dem sie den Copthriller „21 Bridges“ produzierten, legen sie mit dem One-Man-Army-Reißer „Tyler Rake: Extraction“ für Netflix nach.
Das Ganze heißt im Original etwas sehr generisch nur „Extraction“ (obwohl es schon 2013 und 2015 gleichnamige Actioner gab) und basiert auf der Graphic Novel „Ciudad“ von Andre Parks, deren Story die Russos zusammen mit dem Autor entwarfen. Das Drehbuch der Filmversion geht nun auf die Kappe von Joe Russo und dreht sich um dem titelgebenden Söldner Tyler Rake (Chris Hemsworth). Der lebt zurückgezogen in Australien, wo er sich die Zeit mit Saufen und von Klippen ins Wasser springen vertreibt, der übliche Bad-Ass-Kram eben. Doch dann steht der nächste Auftrag an, den Kollegin Nik Khan (Golshifteh Farahani) ihm überbringt. Die macht sich Sorgen um Tylers etwas abgewrackten Zustand, aber braucht ihn, denn er ist – natürlich – der Beste der Besten.
Und genau den braucht der inhaftierte indische Drogenbaron Ovi Mahajan Sr. (Pankaj Tripathi) jetzt auch, denn sein gleichnamiger Filius (Rudhraksh Jaiswal) wurde von seinem Konkurrenten Amir Asif (Priyanshu Painyuli) gekidnappt und nach Bangladesch gebracht. Tyler soll als vermeintlicher Lösegeldbote nach Dhaka reisen, dort dann aber Ovi Jr. aus den Krallen der Entführer befreien. „Tyler Rake: Extraction“ setzt damit auf das relativ unverbrauchte Flair seines Schauplatzes und besetzt die meisten Rollen mit indischen Akteuren, während Chris Hemsworth als international bekannter Star und Zugpferd fungiert.

Die eigentliche Befreiungsaktion klappt wie am Schnürchen, doch dann wird es problematisch: Weil Ovis Konten eingefroren sind, will seine rechte Hand Saju (Randeep Hooda) Ovi aus Tylers Obhut holen, ohne den Söldner und seine Hintermänner zu bezahlen. Also sabotiert er den Fluchtplan, doch von da an sind Tyler, Ovi und Saju allein auf feindlichem Gebiet…
Die Umsetzung von „Tyler Rake: Extraction“ legten die Russos in die Hände des Langfilmdebütanten Sam Hargrave, der jedoch als Stunt Coordinator und Second-Unit-Regisseur schon langjährige Erfahrung mitbrachte und öfter mit den Brüdern gearbeitet hatte. Und Hargrave ist hier voll in seinem Element, wenn er Tyler als unbesiegbare Ein-Mann-Armee unter Gegnerhorden wüten lässt, die aus Straßengangstern, korrupten Polizisten und gekauften Militärs bestehen. Trotz des tendenziell unrealistischen One-Man-Army-Ansatzes verkauft Hargrave das Ganze aber nicht rein als stilisiertes Todesballett der Marke „John Wick“, sondern setzt auf Elemente wie militärische Taktik, um Tyler als Supersöldner zu verkaufen: Der hält Gegner mit Sperrfeuer in der Deckung, wechselt fließend zwischen Kurz- und Langwaffen und trägt nie mehr Waffen als nötig mit sich herum.
Zusammen mit Kameramann Newton Thomas Siegel erzeugt Hargrave dabei unglaublich dynamische Actionszenen, in denen sich Tyler durch die Feindesschar schlägt, tritt, schlitzt und schießt. Ähnlich wie Kollege Wick wechselt er fließend zwischen Nahkampf und Shoot-Out in famos choreographierten Gefechten, die aber trotzdem nicht eintönig ausfallen. Mal bekämpft er kindliche und jugendliche Handlanger, die er nur ausschalten, nicht töten will, mal hat er Unterstützung durch Kollegen, mal zerlegt er die Gegner im Alleingang. Neben lauter Kanonenfutter gibt es Saju als gleichwertigen Widerpart und im Finale wird das Kampfgeschehen mit Hubschraubereinsatz und Scharfschützenattacke noch einmal erweitert. Herzstück ist aber eine rund zehnminütige, ohne sichtbare Schnitte gedrehte Sequenz in der Mitte des Films, in der eine Autojagd erst in einen Häuserkampf übergeht, um dann in einer weiteren Verfolgungsjagd zu enden. Durchweg zeugt „Tyler Rake: Extraction“ von einem grandiosen Gespür für Rauminszenierung, behält stets die Übersicht und montiert seine Actionszenen extrem dynamisch.

Während die Action vom Feinsten ist, fällt das Script dagegen eher in die Kategorie zweckmäßig. Der Rescue-Plot ist in erster Linie das Vehikel für die Gefechte, die Interessen der verschiedenen Parteien sollen vor allem verhindern, dass Tyler plangemäß nach wenigen Filmminuten mit Ovi abhaut. Also sind die Begründungen eher dünn, warum Saju die Rettungsaktion sabotiert und warum Tyler seinen Schützling am Leben lässt, obwohl kein Geld zu erwarten ist (uralte Begründung: Ovi erinnert ihn an den eigenen, verstorbenen Sohn). Regisseur Hargrave und Drehbuchautor Russo erzählen das Ganze immerhin recht rasant, aber eben auch ohne große Innovationen oder einen neuen Touch.
So ist dann auch die Beziehung zwischen Ovi und Tyler in erster Linie vom Script behauptet, weniger auf der Leinwand zu sehen. Interessanter ist da die angedeutete Fürsorglichkeit Niks für den vom Leben gebeutelten Elitesöldner, die im Subtext mitschwingt. Geradezu klischeehaft dagegen ist er Einbau des alten, ortsansässigen Kollegen Gaspar (David Harbour), der sich so verhält wie sich alte, ortsansässige Kollegen in Söldnerfilmen wie diesem immer verhalten, weshalb alles an dieser Stelle auch nach dem erwartbaren Schema abläuft. Immerhin ist das Filmende packend und dramatisch, lässt sich in mehrere Richtungen interpretieren, wobei die Ankündigung eines Sequels inzwischen die Deutung für den Zuschauer übernimmt.

An den Akteuren kann man dagegen nicht meckern. Chris Hemsworth bringt seine Erfahrung als militärisch trainierter Actionheld in Filmen wie „12 Strong“ gewinnbringend ein und überzeugt als tougher Söldner, der durch Blut und Dreck watet. In härteren Actiongefilden macht Hemsworth ebenso eine gute Figur wie als Superheld im MCU. Rudhraksh Jaiswal ist ein guter Spielpartner für den Star, womit die beiden ihren Figuren über das etwas formelhafte Script hinaus zum Leben erwecken. Weitere Akzente setzen Golshifteh Farahani und Randeep Hooda in den wichtigsten Nebenrollen des Films, die hervorragend gecastet wurden. David Harbour schüttelt seine Rolle locker aus dem Ärmel, ist aber nur kurz dabei. Leider fehlt es etwas an einer richtigen Schurkenfigur: Saju will ja eigentlich Gutes, Priyanshu Painyuli als Amir ist zwar hassenswert fies, bleibt aber der Strippenzieher, und ein korrupter General mit Sniperfähigkeiten greift zu spät aktiv ins Geschehen ein.
Das ist etwas schade, denn das Gangsterumfeld des Films ist ein großer Pluspunkt. „Tyler Rake: Extraction“ ist natürlich keine Milieustudie und Indien bzw. Bangladesch in erster Linie ein exotischer Hintergrund, aber Hargraves Film profitiert vom spannenden Szenario von Elitekämpfern, die allein in einer Umgebung überleben müssen, in der ihnen fast jeder ans Leder will, man siehe „Black Hawk Down“ oder „The Raid“. An diese reicht „Tyler Rake: Extraction“ dann nicht heran, präsentiert sich aber als wesentlich bessere Alternative zum artverwandten „Mile 22“, denn im Gegensatz zu Bergs Film sieht der hier nicht so aus, als wäre der Schnitt vom betrunkenen Azubi erledigt worden.

Mit Werken wie „The Night Comes for Us“, „6 Underground“ und „Spenser Confidential “ bedient Netflix ja derzeit das Publikum für Old-School-Actionfilme besser als das Kino, wo abseits der „John Wick“-Reihe wenig Gutes zu finden ist. „Tyler Rake: Extraction“ fügt sich da als knüppelharter One-Man-Army-Reißer wunderbar ein, dessen Drehbuch zwar eher zweckmäßig ist, aber der mit Flair, gut gecasteten Darstellern und vor allem famos choreographierten Actionszenen zu überzeugen weiß. Und wenn der Held einen Gegner mit einer Harke erledigt, dann macht er seinem Namen alle Ehre. 7,5 Punkte meinerseits.

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