Review

„Wenn ich's nehme, dann fühl‘ ich mich wie Jesus und der Terminator gleichzeitig…“

Eric Stehfest („Gute Zeichen, schlechte Zeiten“) ist ein junger deutscher Schauspieler, der jahrelang abhängig von der Droge Crystal Meth war. Damit setzte er sich im 2017 veröffentlichten autobiographischen Roman „9 Tage wach“ auseinander, das wiederum Grundlage für die für den privaten Fernsehsender Pro7 von der Produktionsfirma Gaumont Deutschland realisierte gleichnamige Verfilmung war, die am 15.03.2020 erstausgestrahlt wurde. Ein ungewöhnlicher Schritt für Pro7, der normalerweise kaum eigene TV-Film-Stoffe produziert respektive produzieren lässt, mit diesem jedoch in direkte Konkurrenz zum neuen „Tatort“ und den üblichen Blockbustern der anderen Privatsender ging.

Eric (Jannik Schümann, „Grenzenlos“) lebt bei seiner liebevollen Mutter Liane (Heike Makatsch, „Die Tür“) und seinem abweisenden Stiefvater Tilo (Benno Fürmann, „Schicksalsspiel“) in Dresden, sein leiblicher Vater unterhält keinen Kontakt zu ihm. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr konsumiert Eric Crystal Meth. Sein Lebenstraum ist es, Schauspieler zu werden. Tatsächlich gelingt es ihm, von der Berliner Akademie der Darstellenden Künste aufgenommen zu werden. Er bricht seine Junkie-Karriere ab und geht zusammen mit seiner Freundin Anja (Peri Baumeister, „Mackie Messer - Brechts Dreigroschenfilm“) nach Berlin. Die Schauspielschule nimmt er unter Leitung seines Lehrers Karl Hoffmann (Martin Brambach, Dresdner „Tatort“) ernst und bleibt sauber. Als es in seiner Beziehung zur mittlerweile schwangeren Anja zu kriseln beginnt, wächst ihm das alles jedoch über den Kopf und er wird rückfällig…

Ist diese Verfilmung nun ein Versuch, sensationslüstern aus einer persönlichen Drogenkrise quotenstark Kapital zu starten? Oder wird dem Publikum in Form eines sensiblen Dramas eine wichtige Botschaft in Bezug auf Crystal Meth, Drogenkonsum generell und möglicherweise gar das Leben allgemein mitgegeben? Einiges spricht für Letzteres: „9 Tage wach“ ist unter dem US-amerikanischen Regisseur Damian John Harper („Los Ángeles“) keine allzu leichtverdauliche Kost geworden. Zu zahlreichen bewusst indiskreten Nahaufnahmen des Konsums und seiner Folgen, die vom leichtfüßigen Auftakt an immer abschreckender wirken, installierte man eine zwischenmenschliche Ebene, die nicht dialoglastig alles auserzählt, sondern die zunehmende Kommunikationsunfähigkeit zwischen Eric und seinem Umfeld skizziert.

Die moderne, hyperdynamische Kamera ist mittendrin statt nur dabei, wenn die Drogenkristalle auf Toiletten zerstoßen und geschnupft werden, wenn in der Elektrodisco ekstatisch die Tanzfläche vereinnahmt wird und Euphorie sich bahnbricht – aber auch, wenn Eric seine Aggressionen und Wut, seinen Frust und seine Ängste immer weniger unter Kontrolle hat und zunehmenden Realitätsverlust erleidet respektive herbeiführt, bis er schließlich auf so viel verbrannte Erde zurückblickt und sich in Therapie begibt, wo er kotzend wie ein Häufchen Elend entzieht. Die Party ist definitiv zu Ende.

Jannik Schümann liefert eine unheimlich intensive und beängstigend exzessive schauspielerische Leistung zugleich, die sich stark vom üblichen TV-Niveau abgrenzt. Makatsch und Fürmann als Mutter und Stiefvater sind gewöhnungsbedürftig, stehen aber zugleich für einen Generationswechsel: Die gefühlt ewig Jugendlichen werden abgelöst, u.a. von Peri Baumeister, die sich großflächige Tätowierungen aufmalen ließ, in ihrer Rolle in Nachtclubs an der Stange tanzt und mit ihrer Freizügigkeit den Film auch um eine erotische Komponente erweitert. Einer der interessantesten Inhalte des Films jedoch ist Erics anfängliche Unfähigkeit, ohne Drogeneinfluss in der Schauspielschule echte Emotionen zuzulassen und dadurch erst fähig zu werden, diese als Schauspieler zu reproduzieren: Hinter seiner Fassade lauert eine ganze Gefühlswelt, die er in Schach zu halten versucht, weil er mit ihrem normalen Umgang überfordert wäre. Dies liefert gewisse Einblicke in Ursache und Wirkung von Drogenabhängigkeit und dürfte Erkenntnisse vermitteln, die für plakative Fernsehfilme vielleicht nicht selbstverständlich sind und sich auf einer anderen Ebene bewegen als die im Prinzip immer gleichen Bilder körperlichen Verfalls.

Die Handlung, die ungefähr zehn Jahre im Leben Stehfests verdichtet wiedergibt, lässt ansonsten vieles unbeantwortet: Was genau hat zu Erics Gefühlschaos geführt, dass er bereits im zarten Jugendalter regelmäßig zu harten Drogen greift bzw. was genau ist an Eric anders als bei anderen, die mit ähnlichen Problemen klarkommen (müssen), ohne sich auf diese Weise zu betäuben? Und weshalb ist es ausgerechnet Eric Stehfest gelungen, als durchschnittlich einer von zehn Crystal-Meth-Abhängigen clean zu werden? Der viel in künstliches blaues und graues Licht – und eine Menge Dreck – getauchte Film ist um eine auf eine jüngere Zielgruppe ausgerichtete Ästhetik bemüht, wofür er sich jedoch unverhohlen bei diversen großen (nicht nur Drogen-)Film-Klassikern bedient und damit letztlich in audiovisueller Hinsicht weniger originell wirkt als mutmaßlich auf manch Zuschauerin oder Zuschauer, die mit diesen Stilen weitestgehend unvertraut sind und aus Neugier einmal den allsonntäglichen „Tatort“ zugunsten Stehfests Drogentrip sausen ließen. Den zeitgemäß urbanen Neo-Noir-Look indes beherrscht die Regie zweifelsohne.

Inwieweit Stehfests (mir unbekannte) Print-Veröffentlichung authentisch biographisch ist und wie sehr dieser Film möglicherweise von der Vorlage zugunsten eines etwaig höheren Unterhaltungswerts abweicht, kann ich nicht beurteilen. Auch habe ich keine eigenen Crystal-Meth-Erfahrungen zum Abgleich anzubieten. Die positiven Aspekte dieses Films scheinen mir unabhängig davon jedenfalls zu überwiegen, wenngleich ich mir nicht sicher bin, wie hoch der Anteil der Zielgruppe ist, die diesen Film im linearen Free-TV tatsächlich für sich entdeckt – und wie stark die aufklärerische oder abschreckende Wirkung auf gefährdete junge Menschen angesichts der Partyszenen, des maskulinen Alphamännchengebarens gerade auch während der Aggressionsausbrüche und nicht zuletzt Stehfests aktueller erfolgreicher medialer Karriere letztlich wirklich ist. Hoffen wir das Beste.

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