Review

Wieder mal ist es Zeit, das DVD-Zeitalter (und die damit verbundenen Umsatzmöglichkeiten) hochleben zu lassen, denn ohne es wären wohl einige Klassiker des Filmschaffen auf vermutlich Nimmerwiedersehen irgendwo verschimmelt. Insbesondere Italien, das in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts einen veritablen Boom in der Filmwirtschaft verzeichnen konnte, wäre mit den Ikonen Fulci, Argento und ein paar der weniger relevanten, heillos unterrepräsentiert gewesen.
Im speziellen Fall gilt es den über knallharte Fankreise hinaus kaum mehr bekannten Regisseur Fernando di Leo zu würdigen, der den meisten Splatterfans immerhin noch mit der softcore Konsalik-Verfilmung (was mich jedes mal auf's neue amüsiert) "La Bestia Uccide A Sangue Freddo" - blumig, wie es sich für einen Giallo gehört - ein verschwommener Begriff sein dürfte. Nun ist dieser Film allerdings eher dem schwächeren Teil seines Schaffens zuzuordnen und die paar Momente, die der Streifen aufwarten kann, heißen durchwegs "Klaus Kinski".
Völlig untergegangen scheint hingegen die Tatsache zu sein, daß di Leo ein paar ausgezeichnete "poliziesci", also die italienische Variante des Polizeifilms, gedreht hat, die nun, dank Koch Media zu einem neuen, äußerst verdienten Leben auferstehen. "Milano Calibro 9" ist das Herzstück seiner Beiträge zu diesem Genre und das verdientermaßen. Interessant am "poliziesco" ist, daß die bekannten italienischen Versatzstücke der Langmächtigkeit, expliziter, oft redundanter, Gewalt und schmieriger Sexeinlagen meist fehlen. Selbst Dilletanten wie Umberto Lenzi können die spärlichen Glanzstücke ihres Filmschaffens in diesem Genre ansiedeln ("Milano Odia", "Roma a mano armata"). Und auch er praktiziert diese Zurückhaltung in der Darstellung. Vielleicht liegt es daran, daß die Themen der Kriminalität und ihrer politischen Verstrickungen zu nahe an der italienischen Realität lagen, um sie mit kindischen Einlagen zu verwässern. Interessant ist auch, daß nicht nur Palermo, Neapel oder Rom als die Schauplätze herhalten müssen, was man ja als nördlicher Mitteleuropäer sofort einsehen würde, sondern sehr häufig die imaginäre Hauptstadt des Bossi-Wahntraums Padanien und tatsächlicher Wirtschaftsmotor Norditaliens, Mailand.
In dieser äußerst bleihaltigen Stadt - und das nicht nur aufgrund des Verkehrs - geht wieder mal eine Geldübergabe schief. Das Paket entpuppt sich als Altpapier und in einer explosiven prä-Titel-Sequenz werden schon mal die ersten dafür zur Rechenschaft gezogen, doch das Geld bleibt verschwunden. Der im Zuge dieses Unfalls verhaftete Ugo Piazza (Gastone Moschin) wird nach drei Jahren aus dem Gefängnis entlassen und freudig von Unterling Rocco des Bandenbosses "Der Amerikaner" (Lionel Stander) in Empfang genommen. Dieser, enorm dynamisch dargestellt von Mario Adorf, ist die eigentliche Hauptperson des Films, zunächst aber der große Antipode Piazzas. Dieser behauptet nun steif und fest, nicht zu wissen, wohin das Geld verschwunden ist, obwohl er der letzte war, in dessen Händen es gesehen wurde. Überflüssig zu erwähnen, daß ihm niemand glaubt. In diesen ersten schweren Stunden seiner Freilassung sucht er seinen alten Boß auf, der erblindet ist und von einem ehemaligen "Mitarbeiter", dem Auftragskiller Gino (Philippe Leroy), gepflegt wird. Piazza will, daß Gino den Amerikaner umlegt, doch dieser hält sich raus, bis Rocco auftaucht und ihn provoziert. Die darauffolgende Schlägerei entscheidet den weiteren Verlauf der Handlung. Piazza, der auf seiner Ignoranz hinsichtlich des Verbleibens der Moneten besteht, wird erpreßt, wieder für den Amerikaner zu arbeiten und schlüpft in Ermangelung einer eigenen Bleibe bei seiner Ehemaligen Nelly (Barbara Bouchet) unter, die im übrigen selbst glaubt, daß er das Geld sehr wohl hat. Als wieder ein paar Transaktionen donnernd daneben gehen, werden als Schuldige Gino und sein blinder Schützling auserkoren und zur Liquidation anheimgestellt. Ugo kann verhindern, daß Gino erschossen wird und somit beginnt der Teufelskreis der Gewalt, der sich zuguterletzt im Anwesen des Amerikaners zuspitzt, indem Gino allein fast die gesamte Bande ausmerzt, selber dabei allerdings ebenfalls umkommt. Um keine Spoiler zu setzen, soll der Inhalt hier mal so stehen bleiben.
"Milano Calibro 9" ist mit einer solchen Geschwindigkeit, ja, Atemlosigkeit inszeniert, daß man sich ans asiatische Actionkino erinnert fühlt. Die Gewalt ist natürlich enorm, aber nie als billiger Schock oder Ekeleffekt eingesetzt, sie ist dem Umständen entsprechend, und die Darsteller, so typisiert sie natürlich sein müssen, vermeiden mit Verve in die Klischeefallen des Gangsterfilms zu plumpsen. Es ist wohl nicht falsch zu behaupten, Filme wie dieser oder die anderen "poliziesci" von di Leo, waren ihrer Zeit voraus. Man sitzt nägelkauend vorm Fernseher und merkt nicht wie die Zeit vergeht. Umso seltsamer, daß diese Streifen auf dem explodierenden Videomarkt der achziger Jahre untergegangen sind. Wahrscheinlich haben die Skandale der Zombie- und Schlitzerstreifen diese kleinen und feinen Meisterstücke des Spannungskinos einfach überstrahlt.
In einer Hinsicht haben di Leos Polizeifilme (wie auch viele seiner Epigonen) etwas mit einem anderen Genre des italienischen Kommerzfilmschaffens gemeinsam: die äußerst düstere Weltsicht, wie sie auch die besten italienischen Western verbreiten. Die vermeintlich Guten sind die Bösen, aber eigentlich sind alle irgendwie böse, weil jeder nur an seinen Vorteil denkt und die Lüge so lange durch Schmerz und Blut aufrecht erhalten wird, bis sie irgendwann zur Wahrheit mutiert. Selbst einer der Polizisten, der ein differenzierteres Bild des Verbrechens in Italien vermitteln will, wird abgesägt und es bleibt der ultrareaktionäre Chef übrig. Und oft ist es der "Häßliche" - es gibt gewisse Parallelen zu "The Good, The Bad, The Ugly" -, der überrascht. Nicht etwa, weil er ein besserer Mensch wäre als er vorgibt zu sein, sondern weil er ehrlich zu seinem Gaunertum steht. Nein, die Welt ist nicht schön und der Gangsterfilm wird der letzte sein, dem zu widersprechen.
Fernando di Leo hat in der Spätzeit seines Schaffens leider nur noch die altbekannte "Itaker-Gülle", sprich viel schmierige Erotik und tumbe Gewalt, produziert (was ja auch unterhaltsam sein kann), doch die vier Kernfilme seiner "poliziesci", also der vorliegende, "Note 7 - Die Jungen der Gewalt", "Mafiaboss - sie töten wie Schakale" (gar nicht mal so daneben betitelt, ebenfalls mit einem zur Höchstform auflaufenden Mario Adorf)) und der grandiose "Der Teufel führt Regie" sind klassische italienische Filmkunst.

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