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Fernando Di Leos von 1972 bis 1973 in die Kinos gekommenen Filme "Milano calibro 9" (Milano Kaliber 9, 1971), "Mala ordina" (Der Mafiaboss - sie töten wie Schakale, 1972) und "Il boss" (Der Teufel führt Regie, 1973) gelten heute als "Mafia"-Trilogie, da sie sich - obwohl inhaltlich voneinander unabhängig - jeweils aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der "Mafia"- Thematik auseinandersetzten. So griffig und werbewirksam eine solche Bezeichnung der frühen Phase Di Leos, Anfang der 70er Jahre, heute erscheinen mag, so sehr vermittelt sie eine thematische Abgeschlossenheit, die seinen insgesamt zehn zwischen 1969 und 1977 dem Genre des "Polizieschi" zuzurechnenden Filmen nicht gerecht wird, die fast prototypisch dessen Entwicklung ausgehend vom Italo-Western parallel zu den gesellschaftspolitischen Veränderungen nachzeichneten.

"I ragazzi del massacro" (Note 7 - die Jungen der Gewalt,1969) war noch mehr Gesellschaftsstudie als Kriminalfilm und reagierte auf typische bürgerliche Ängste angesichts einer revoltierenden Jugend, bevor Fernando Di Leo mit "Milano calibro 9" seinen einzigen Italo-Western als Regisseur schuf, genauer die neben Sergio Sollimas "Cittá violenta" (Brutale Stadt, 1970) und "Revolver" (Die perfekte Erpressung, 1973) ideale Kombination aus Polizeifilm und Western - ein Genre, an dem er als Drehbuchautor entscheidend mitgewirkt hatte. Nachdem er bei den zwei ersten Sergio Leone-Western "Per un pugno di dollari" (Für eine Handvoll Dollar, 1964) und "Per qualche dollaro in più" (Für ein paar Dollar mehr, 1965) dem Autoren-Team angehörte, bewies er mit "Il ritorno di Ringo" (Ringo kommt zurück, 1965) und "Le colt cantarono la morte e fu... tempo di massacro" (Django - sein Gesangsbuch war der Colt, 1966) früh Eigenständigkeit. Mit "Ognuno per se" (Das Gold von Sam Cooper, 1968) hatte er noch wenige Jahre zuvor einen prägenden Western geschrieben, bevor er das Thema eines Einzelgängers, der nach Jahren in seine Heimat zurückkehrt und sich seiner Vergangenheit stellen muss, in die italienische Gegenwart transferierte.

Dass er die Story von "Milano calibro 9" innerhalb des organisierten Verbrechens ansiedelte, war folgerichtig und wurde prägend für den Polizieschi, in dem es fast immer ums große Ganze und selten um einzelne Kriminalfälle ging. Auch im Italo-Western bekam es der "Held" in der Regel mit einer Übermacht zu tun, die von einem in der bürgerlichen Gesellschaft angesehenen Großgrundbesitzer streng hierarchisch geleitet wurde. Zu einer solchen Truppe gehörte immer ein Mann für die Drecksarbeit, eine Figur, die Mario Adorf als Rocco geradezu beängstigend überzeugend in ihrer Mischung aus Brutalität, Sadismus und absoluter Hörigkeit gegenüber seinem Boss interpretierte. Auch Gastone Moschin als Piazza, der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis mit den ehemaligen Kumpanen konfrontiert wird, die ihm unterstellen, Drogengelder gestohlen zu haben, agierte faszinierend als stoischer Einzelgänger, der erst leiden muss, bevor der von seiner Umgebung unterschätzte Mann zurückschlägt - eine klassische Western Konstellation.

Die "Mafia"-Thematik spielte in "Milano calibro 9" dagegen noch eine untergeordnete Rolle, mehr als Hintergrund für die inneren psychologischen Abhängigkeiten unter den ehemaligen und aktuellen Bandenmitgliedern. Eine in ihrer Ganovenehre fast romantisch anmutende Figur wie Chino (Phillipe Leroy), der seinen erblindeten Boss in einer einfachen Wohnung betreut, und den Piazza (Gastone Moschin) als Einzigen um Hilfe bittet, wäre in Di Leos folgenden, die Mechanismen der Mafia in ihrem ganzen Zynismus entlarvenden Filmen unvorstellbar. Auch die Beziehung zu der Nachtclub-Tänzerin Nelly (Barbara Bouchet), die Piazza wieder mit offenen Armen aufnimmt, entsprach in ihrer Zwiespältigkeit mehr einem klassischen Drama und erzeugte eine emotionale Nähe zu dem Protagonisten, unterstützt von der eindringlichen Musik Luis Bacalovs, die Fernando Di Leo in seinen folgenden Filmen zunehmend verlor. Dank seines Temperaments konnte Mario Adorf in "Mala ordina" noch eine Identifikation mit seiner Rolle als Zuhälter aufbauen, in "Il boss" existieren solche Emotionen nicht mehr.

Eine von Di Leo beabsichtigte Richtung, die den Weg zum klassischen Poliziesco, in dem ein Einzelgänger gegen eine Übermacht aus Korruption und Verbrechen antrat, vorbereitete. Der in Deutschland nahezu unbekannte "Il poliziotto è marcio" (1974) mit Luc Merenda in der Hauptrolle als Rache nehmender Polizist setzte diese Linie konsequent fort. Anders als „Milano calibro 9“ der über die grobe Mafia-Thematik hinaus kaum Ähnlichkeiten zu „Il boss“ aufweist, werden die Parallelen in „Il poliziotto è marcio“ schon in der Anfangsszene offensichtlich, in der ein Gangsterboss und seine mit Maschinengewehren bewaffneten Männer eine Gruppe gnadenlos massakrieren, weil sie es gewagt hatten, mit Anderen Geschäfte zu machen. Dagegen erinnern die Szenen in „Milano calibro 9“, in denen zwei Polizei-Offiziere (Frank Wolff und Luigi Pistilli) politisch kontrovers die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen diskutieren, noch an den Vorgängerfilm "I ragazzi del massacro" - ein solches gedankliches Engagement, unabhängig von der jeweiligen Haltung, traute Di Leo den Polizisten in "Il boss" nicht mehr zu.

Die Einordnung in eine Trilogie und besonders die damit verbundene Vergleichbarkeit können einem solitären Werk wie "Milano calibro 9" nicht gerecht werden, in dem Di Leo noch das menschliche Element suchte. Möglicherweise führte die daraus entstehende Tragik zur Konsequenz der folgenden Filme, in denen die Befindlichkeiten des Einzelnen innerhalb der Mechanismen einer gnadenlosen Verbrecherordnung keine Rolle mehr spielten. (9/10)

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