Gedankensplitter zu einer Reise in die Gegenwart der Vergangenheit …
Die Nacht wird vom Licht der Neonröhren erhellt, und der Rhythmus wird von den Baustellen und den desinteressiert vorbeifahrenden Autos vorgegeben. Muzak hat sich breit gemacht im Reiche der Musik. Muzak verkleistert das Gehirn, zerstört die Synapsen, und gaukelt dem Menschen vor, dass amerikanisches Fast Food schmeckt und dem Wohlbefinden dient. Doch ein Mann hat sich vorgenommen, das Diktat der Muzak zu durchbrechen. Fieberhaft sucht er nach der einen Frequenz, welche die Muzak überlagert und den Menschen das freie Denken wiedergeben soll. Trotzdem ihm ein Agent der Regierung hart auf den Fersen ist, findet er die Frequenz, und die Konsequenzen sind weitreichend …
Bildüberlagerungen. Frequenzrauschen. Dumpf klopfender Rhythmus. Genesis P. Orridge erzählt etwas über Informationen. William S. Burroughs zerstört mit dem Schraubenzieher eine Festplatte. FM Einheit und Christiane F. zoffen sich. Magnetbänder werden gehortet damit keine Information verloren geht. Die Frösche des Todes sind unterwegs. Geheimnisvolle Wesen schmieden im Feuer der Unterwelt Informationen. Sonnenaufgänge über einer kalten Stadt.
DECODER erzeugt Unruhe, erzeugt ein Nagen an der Seele ob der Gleichförmigkeit der Welt. Wurde die Welt 1984 mittels Muzak regiert, so sind es heute Genderwahn, politische Korrektheit, bewusste Berücksichtigung und sorgfältige und vorsätzliche Einbeziehung von allem was nicht weiß, angelsächsisch und protestantisch ist. Wie groß ist da der Unterschied? Wo es in Slava Tsukermans LIQUID SKY noch Außerirdische benötigt hat, die den Drogenabhängigen und den Sexsüchtigen das Gehirn abgesaugt haben, ist es in DECODER die Industrie die das Gleiche macht. Ist es im Jahr 2021 der Druck der emanzipierten und emanzipierenden Bürgerrechtsbewegungen die alles niedermachen, was sich nicht dem Diktat der unbedingten Egalität beugt.
Wo ist Decoder wenn man ihn braucht? Wer findet jetzt die richtige Frequenz, um aus dem Prinzip der Gleichmacherei auszubrechen und Individualität wieder zu etwas zu machen, was sich nicht aus den immergleichen und stereotypen Attributen speist, und auch wieder zum Begriff der Persönlichkeit passt? Das bewusste Abseits, das Anderssein als 24/7-Profession und Lebenszweck wird heute zelebriert und zur Schau gestellt, aber die Originalität einer natürlich gewachsenen Subkultur, in der die eigene Neugier geschärft und erweitert wird, die ist der markt- und markenbeherrschenden Kontrolle in Form einer Industrialisierung der Individualität gewichen, die aus uns allen, vor allem aber den Jüngeren, gut funktionierende Marktteilnehmer macht. Wer heute neben der Gesellschaft steht wird in noch viel größerem Maße als damals entweder beschimpft, oder mittels süßer Lockstoffe aufgesogen, verarbeitet und wiederum zur Schau gestellt. Die De-Individualität des Jahres 2021 ist somit nichts anderes als das Synonym der Muzak aus dem Jahr 1984.
Themenwechsel: aus dem handbuch des kleinen anarcho-filmemachers: cutup-texte als filmische ausdrucksform. das auflösen narrativer strukturen zugunsten einer orientierungs- und hemmungslosen und einfach-draufhalten-mentalität. nimm dir eine kamera und leg los. unterleg deine bilder mit der wildesten elektronik-avantgarde die du finden kannst. pack genesis p. orridge und william s. burroughs in deinen film, damit sprichst du die kunstelite an, die dann zwar mit dem film nichts anfangen kann, dir aber gutes geld bringt. pack fm einheit in den film, den zwar die kunststudenten nicht kennen, der aber die postpunks und die waver ins kino bringt und dir gutes geld bringt. garniere das ganze mit einer kruden story aus unterdrückung, überwachung und freiheitskampf, um individualität, sex und todesfrösche. und das wichtigste: nimm eine kamera in die hand und leg einfach los!
Doch ist es wirklich so einfach? DECODER ist mehr als nur der Versuch eines Performance-Künstlers, sich filmisch zu betätigen. DECODER kann ich aus der Rückschau(!) als Versuch erkennen, das Lebensgefühl einer Jugendbewegung zu dechiffrieren, die sich nicht als Jugendbewegung gefühlt hat. Der Film ist ein Manifest für die Anordnung elektronischer Frequenzen als Musik, für das Geräusch als Quelle der intellektuellen Weiterentwicklung und Möglichkeit der Information. Die britischen Avantgardekünstler Throbbing Gristle haben bereits 1976 festgestellt: “We’re interested in information, we’re not interested in music as such. And we believe that the whole battlefield, if there is one in the human situation, is about information.” Etwas, was Genesis P. Orridge im Film auch wiederholen wird (1), und prophetische Worte, wenn man sich die Welt 50 Jahre später anschaut und dabei feststellt, dass sich dem Wunsch nach (vermeintlicher) Information alles andere unterzuordnen hat. Und wer immer außerhalb seiner eigenen Blase auf der Suche nach Information ist, oder wer, noch schlimmer, nicht bereit ist sich dem Diktat der Informationstechnologie zu beugen, wird schnell als Außenseiter verspottet und beschimpft. Im Gegensatz zu heute war das Gefühl der Überwachung 1984 (!) sehr wohl vorhanden und es gab auch ein breites Bewusstsein für diesen Umstand. Im Film wird dies durch den Regierungsagenten dargestellt. Ein Mann in einem Trenchcoat, der für eine undefinierte Behörde und im Auftrag der amerikanischen Konsumindustrie verhindern soll, dass die Umsätze einbrechen (2). Oder dass die Menschen gar das eigenständige Denken anfangen. Was passiert, als der Decoder seine Störsignale sendet? Die Jünger des Fastfoods kotzen alles aus, sie verlassen fluchtartig die Tempel ihrer vormaligen Herren, sie zerstören die Städte … Das ist zwar ein Zitat aus Kollaps von den Einstürzenden Neubauten, passt aber richtig gut. Denn genauso wie damals ist gefühlt bis zum Kollaps nicht viel Zeit …
DECODER kann nicht verglichen werden mit dem sich anbiedernden NEONSTADT, dem flachen ASPHALTNACHT oder dem unentschiedenen JETZT UND ALLES. Eher noch mit KALT WIE EIS, aber DECODER ist mehr. DECODER ist eine Nacht im Jahr 1984, zwischen Kneipe und Disco, zwischen Gruppen von Punks, Skins und amerikanischen Soldaten. Decoder ist ein Weg durch nächtliche Städte, in denen um 22 Uhr noch die Bürgersteige hochgeklappt wurden und Ruhe einkehrte. Nur Taxifahrer und Jugendliche waren da noch unterwegs, auf dem Weg zum nächsten Bier, oder auf dem Rückweg von der Kneipe, wo man sich im Straßenverkauf ein paar Bier geholt hat.
Aber vor allem war überall Musik. Musik hat das Leben beherrscht und das Denken. Das Größte was man besitzen konnte war ein Walkman, mit dem man seine eigene Musik hören konnte und unabhängig war von der Muzak in Kaufhäusern und Fresstempeln. Die Musik im Film, für die in erster Linie FM Einheit und Dave Ball von Soft Cell zuständig waren, erinnert in ihrer Kompromisslosigkeit und Härte oft an die Epen der amerikanischen Postpunkband Chrome. DECODER spiegelt dieses Lebensgefühl zwischen kühl-chicen Interieurs und abgeranzten Stadtvierteln, zwischen Neonröhren und versifften Kneipen, zwischen hartem und nervösem Wave und dunklen Soundscapes. DECODER ist die bisher beste Non-Doku-Zeitreise in die frühen 80er, die mir filmisch über den Weg gelaufen ist. Weil er, anstatt sich auf die Beschreibung der Oberfläche zu beschränken, auf den Geist dieser Zeit zielt.