Review

Motown in O-Town

„Wie bei Walter Hill!“

„Tatort“ Wiesbaden zum Achten: Gerade erst die Zeitschleife in „Murot und das Murmeltier“ überstanden, findet sich LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) nun in einer Mischung aus Remake und Hommage wieder. Pate stand John Carpenters düsterer Action-Thriller „Assault – Anschlag bei Nacht” alias „Das Ende” aus dem Jahre 1976, der wiederum von Howard Hawks US-Western „Rio Bravo“ inspiriert war. Die Regie oblag Thomas Stuber („Herbert“), der das Drehbuch zusammen mit Filmbuch-Autor Clemens Meyer verfasste, welcher als Radio-Moderator auch gleich eine Nebenrolle übernahm. Seine Premiere feierte „Angriff auf Wache 08“ am 24.08.2019 auf dem Festival des Deutschen Films, die TV-Erstausstrahlung folgte am 20.10.2019.

„Hat die Polizei bereits kapituliert?“

Eine bis an die Zähne bewaffnete Spezialeinheit der Polizei ermordet eine dreiköpfige Pokerrunde. Da es sich bei den Teilnehmern offenbar um Hochkaräter der Unterwelt handelte, sinnen die Oberhäupter verschiedener brutaler Straßengangs und Kriminellenvereinigungen auf Rache: Gemeinsam will man es den Bullen zeigen. Zunächst einmal erschießt man aber einen Eisverkäufer sowie den Vater der kleinen Jenny (Paula Hartmann, „Der Nanny“), der ihr ein Eis kaufen wollte, aber die Leiche entdeckt, während die Täter noch zugegen sind. Jenny schnappt sich kurzerhand die Waffe des toten Eismanns, erschießt einen der Attentäter und flieht auf die Museumswache 08, in der Polizist Walter Brenner (Peter Kurth, „Tatort: Das Haus am Ende der Straße“) und seine Kollegin Cynthia Roth (Christina Große, „Petting statt Pershing“) Schulklassen veranschaulichen, wie zu Zeiten des RAF-Terrors die Polizeiarbeit funktionierte. Felix Murot vom LKA hat sich freigenommen und besucht seinen alten Freund Brenner, mit dem er früher zusammengearbeitet hatte. Nachdem die traumatisierte Jenny hineingestürzt ist, dauert es nicht lang, bis die Wache von zahlreichen Gangstern umstellt ist und, ausgerechnet während des Eintritts einer Sonnenfinsternis, unter heftigen, unerbittlichen Beschuss genommen wird. Hinzu gesellen sich die Schließer Jörg (Jörn Hentschel, „Willkommen bei den Honeckers“) und Manfred (Sascha Nathan, „Tatort: Treibjagd“), die mit ihrem mit sechs Sträflingen besetzten Gefangenentransporter eine Reifenpanne erleiden und auf der Wache um Hilfe bitten. Im Kugelhagel überleben nur zwei der Gefangenen, unter ihnen Kermann (Thomas Schmauser, „Nach fünf im Urwald“), ein wahnsinniger, aber kultivierter Kannibale. Notgedrungen tut man sich zusammen und versucht, der feindlichen Übermacht Herr zu werden – oder zumindest so lange die Wache zu verteidigen, bis Hilfe eintrifft…

Bei der Synthesizer-Melodie nach dem typischen „Tatort“-Vorspann handelt es sich bereits um eine Variation der berühmten minimalistischen Titelmelodie John Carpenters aus „Assault – Anschlag bei Nacht“, einem Film, der motivlos mordend wirkende Jugendlichen, die in keiner Weise charakterisiert oder überhaupt näher gezeigt werden, als nicht greifbare, akute Gefahr, Horrorfilmen nicht unähnlich, inszenierte und einen Belagerungszustand heraufbeschwor, aus dem sich die Handlung und ihre Dramaturgie speiste. Die Ausgangssituation war eine nicht näher erläuterte, dystopisch anmutende allgemeine gesellschaftliche Verrohung und Zunahme von Gewalt. Diese möchte man auch diesem „Tatort“ zugrunde legen, indem der vom Co-Autor gespielte Radiomoderator ihn mit einer entsprechenden Durchsage eröffnet. Der Prolog um die schießwütige Spezialeinheit lässt im Anschluss darauf schließen, dass die Gewaltzunahme, anders als bei Carpenter, vor allem von der Exekutive ausgeht – was jedoch bald wieder über den Haufen geworfen wird. Man wird Zeuge der wortlos per Blutschwur vereinbarten Verschwörung der Bandenköpfe und fragt sich, weshalb nun ausgerechnet der Eisverkäufer dran glauben musste. Hatte er einen Nebenjob als Mitglied der Spezialeinheit, war er ein Verräter o.ä.? Offenbar nichts dergleichen, denn da niemals die Sprache darauf kommt, ist davon auszugehen, dass es sich um einen ungelenken Versuch handelte, die vom Radiomoderator postulierten Gewaltexzesse zu illustrieren. Da das Ganze aber wie ein geplanter Auftragsmord aussieht, verwirrt diese Exposition mehr als dass sie eine aus den Angeln geratene Gesellschaft in einem Zustand der Anomie vermitteln würde. Von Chaos auf den Straßen ist nichts zu sehen. Auch die Verbindung pokernder, Assoziationen zur organisierten Kriminalität weckender Mafiosi-Lookalikes zu wüsten Straßengangs bleibt unklar und erscheint wenig durchdacht.

Interessant wiederum ist, dass sich die den Gefangenentransport durchführenden Justizvollstreckungsbeamten ihren Schützlingen gegenüber wie die hinterletzten Arschlöcher benehmen, sodass es wie eine im Spielfilm-Sujet „gerechte Strafe“ anmutet, wenn auch sie der Zorn der Gangs trifft. So treffen auf der Wache schließlich unterschiedlichste, mitunter reichlich überzeichnete Figuren aufeinander, die zur Zusammenarbeit gezwungen werden. Als der Sturm über sie hereinbricht, fordert das einige Verluste. Nun ist man wieder eng an Carpenter, denn die Angreifer bleiben diffus und die gebildeten Zweckgemeinschaften voller zwischenmenschlichem Sprengstoff. Zwischen den wüsten Schusswechseln ist Zeit für einige Film-Querverweise in Dialogform sowie zahlreiche Zwischenschnitte auf den Offenbacher Radio-DJ, der wie ein Internetradio-Hobbysprecher wirkt, der es maßlos übertreibt, sogar auf „Good Morning, Vietnam“ macht und einen Motown-Hit nach dem anderen auflegt. Seine Rolle als neutrale, beobachtende Chronisteninstanz erinnert dabei nicht nur an das Robbie-Williams-Vietnamkriegs-Vehikel, sondern auch an den Streetgang-Kultfilm „Warriors“ und Carpenters atmosphärischen Horrorklassiker „The Fog“. Zudem werden ruhigere Momente dafür genutzt, dass sich Kermann an Hannibal-Lecter-Dialogen versuchen und Felix Murot mit Walter Brenner (dessen Name sicherlich nicht von ungefähr an „Rio Bravo“-Mime Walter Brennan erinnert) in Erinnerungen schwelgen kann: Reife, desillusionierte Männer, deren Leben sich mehrmals an Scheidepunkten befanden – so beispielsweise als Brenner sich in ein RAF-Mitglied verliebte, aber nun einmal auf der falschen Seite stand. Sie ist schließlich nach Kuba ausgewandert und schickt ihm noch regelmäßig Zigarren, wie wir erfahren.

Damit der Hauptteil aus „Assault – Anschlag bei Nacht“ überhaupt halbwegs glaubhaft imitiert werden kann, begibt man sich auf eine Art Zeitreise. Nur deshalb handelt es sich um eine Museumswache, nur deshalb gibt es dort kein Internet und ist kein funktionstüchtiges Mobiltelefon greifbar. Das ist letztlich nicht minder konstruiert als die unwahrscheinliche Ausgangssituation und die zahlreichen Zufälle, die zur Personenkonstellation auf der Wache geführt haben. Den Retro-Eindruck verstärken die häufig eingestreuten Split-Screen-Szenen, die gemeinhin nur noch dann zum Einsatz, wenn ältere filmische Stilmittel klar als solche erkennbar aufgegriffen werden sollen. Recht gut funktioniert auch die Farbwahl, ein Hang zum Orange transportiert das Gefühl eines etwas zu heiß und damit gefährlich gewordenen Sommers.

Derart großangelegte Schießereien, lebensbedrohliche Belagerungszustände und Aufeinandertreffen konfliktträchtiger Figuren an einem Sonntagabend zur Hauptsendezeit in der ARD zu sehen, macht aus cinephiler Sicht natürlich ebenso viel Spaß wie das Wiedererkennen Carpenter’scher Stilelemente und Zuordnen verbaler wie nonverbaler Filmzitate. Dennoch geschieht etwas, was Carpenter zu seinen Hochzeiten nie unterlief: Es schleichen sich Längen, Vorhersehbares und Repetitives ein. Und wann immer die Hommage aufgrund ironischer Brechungen oder karikaturartiger Überzeichnungen zur Persiflage gerät, wird sie aufgrund ihrer Inkohärenz zur Farce. Mit einem Märtyrertod im Finale wird dann noch einmal etwas zu dick aufgetragen, bevor man sich nach dem Schlusspunkt unweigerlich Fragen stellt, die sich unter Carpenter nie stellten: Wer, was, warum und vor allem: Was sollte das alles? Klar, es wird auch fürs Filmteam sehr befriedigend gewesen sein, einmal den öffentlich-rechtlichen Auftrag zu bekommen, eine Genrefilm-Hommage zu drehen und es richtig krachen zu lassen. Doch so unterhaltsam das Ergebnis über weite Strecken auch ausgefallen ist: Je länger ich es Revue passieren lassen, desto mehr verliert es. Letztlich passt zu wenig zusammen, werden zu viele Ansätze aufgegriffen und wieder fallengelassen und erscheint die Gemengelage zu erzwungen und wenig ernstzunehmen statt wirklich beängstigend, um einen derart zu packen wie Carpenters Variante. Als „Tatort“-Experiment durchaus sehenswert, am großen Vorbild John Carpenter hat man sich aber verhoben.

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