„Kennen Sie das, wenn einem die einfachsten Worte nicht einfallen?“ – „Klar! Was meinen Sie, warum ich so wenig rede?“
Der 20. „Polizeiruf 110“ um das Rostocker Ermittlungsduo Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Alexander Bukow (Charly Hübner) entstand unter der Regie Damir Lukacevics („Im Namen meines Sohnes“), der auch das Drehbuch verfasste. Ihre Premiere feierte die Episode am 01.10.2019 im Rahmen des Hamburger Filmfests, erstausgestrahlt wurde sie am 06.10.2019.
Eine minderjährige Ausreißerin wird in Rostock ermordet und grausam misshandelt aufgefunden, kurz darauf eine dänische Touristin. Beide Fälle ähneln sich extrem und bringen König und Bukow auf die Spur einer 15 Jahre zurückliegenden, unaufgeklärten Mordserie. Auch damals wurden den Opfern Organe entnommen, ihre Schuhe aber säuberlich neben dem Leichnam drapiert. Die jugendliche Marla (Emilia Nöth) verdächtigt ihren Vater, den von ihrer Mutter seit Kurzem getrenntlebenden Umzugsunternehmer Frank Kern (Simon Schwarz, „Grießnockerlaffäre“), und wendet sich heimlich an die Kripo. Nach einer Aussprache mit ihrem Vater verweigert sie sich jedoch der weiteren Zusammenarbeit mit der Polizei, während zeitgleich die reife Elke Hansen (Angela Winkler, „Benny’s Video“) die Polizei aufsucht und ihren 25 Jahre jüngeren Ehemann, den Jura-Studenten Jens (Alexander Beyer, „Good Bye, Lenin!“), anschwärzt. Sie hält ihn für den gesuchten Täter. Tatsächlich hatte Jens Kontakt zu einem der Opfer und hat obsessiv anmutende Zeichnungen von ihr angefertigt…
Nach sieben und nach neun Minuten präsentiert Lukacevic beide Verdächtigen und gewährt dem Publikum damit erhebliche Informationsvorsprünge gegenüber der ob der Mordfälle und ihrer schwierigen beruflichen Situation sichtlich angefressen König und dem seine Gefühle in Rum ertränkenden Bukow, der Videobänder zurückliegender Fälle konsultiert. Interessanterweise lernen die Zuschauerinnen und Zuschauer die Verdächtigen vornehmlich durch die ihnen nahestehenden weiblichen Personen kennen – ein dramaturgischer Kniff, der den Informationsvorsprung auf Zuschauer(innen)seite nicht zu groß werden lässt. Das größte Rätsel des Publikums bleibt lange Zeit, ob sich derjenige, der sich am verdächtigsten macht, tatsächlich als der Täter entpuppen wird oder ob man bewusst an der Nase herumgeführt wird. Stets zu befürchten ist unterdessen, dass sich der Täter durch eine Gewalttat gegenüber der ihm nahestehende Person zu erkennen gibt, woraus dieser „Polizeiruf“ stärker seine Spannung bezieht als aus den Ermittlungen.
Eigentliches Thema dieses Falls ist jedoch Dualismus, vor allem der des Menschen. So wie die meisten Menschen mehrere Gesichter haben, hat der Täter zwei Identitäten: eine als mehr oder weniger unauffälliges Mitglied der Gesellschaft, eine als psychopathischer Serienmörder. Er begeht gerade seine zweite Mordserie und hat zwei neue Opfer auf dem Gewissen – und wie sich herausstellen wird, ist er ein Zwilling. Diese Dopplungen und Wiederaufnahmen ziehen sich subtil durch den gesamten Film und stehen damit im Kontrast zu den im positiven Sinne sehr direkten, konfrontativen Dialogen, die im Kopfkino abbilden, was die Kamera nicht zeigt, aber auch zur leider mit dem Holzhammer erfolgten, eher plump wirkenden Montage. Mit der Enttarnung des Täters indes wird einem dann auch bewusst, wie unwahrscheinlich konstruiert die Hintergrundgeschichte um den zweiten Verdächtigen ist.
Aus dem spielfreudigen Ensemble besonders heraus sticht Nachwuchsschauspielerin Emilia Nöth, die hier erstmals vor der Kamera stand und anstatt mit der Ambivalenz ihrer Figur möglicherweise überfordert zu sein eine beeindruckende, memorable Leistung abliefert. Die Dreharbeiten fanden u.a. auf dem Museums- und Veranstaltungsschiff Stubnitz statt, die Außenaufnahmen erzeugen eine trügerische frühsommerliche Stimmung – kein Wunder, die Dreharbeiten fanden bereits von Juni bis Juli 2018 statt. Der „Polizeiruf 110: Dunkler Zwilling“ bietet spannende, gehobene Krimiunterhaltung mit Anleihen bei Serienmörder-Psychogrammen, die sowohl die Unauffälligkeit der Täter im Alltag als auch die unfassbar kranke Grausamkeit ihrer Taten ins Gedächtnis ruft und ihre Auswirkungen auf den eigenen Familienkreis ausweitet. Versöhnlich wird es erst ganz am Schluss, wenn König und Bukow vielleicht doch mehr wagen als sich nur wieder zu vertragen. Ob der Rostocker „Polizeiruf“ dadurch eventuell zukünftig wieder etwas weniger grimmig ausfallen wird?