Wenn schon bedeutende Regisseure wie Kenneth Branagh in einer modernisierten Version eines Agatha-Christie-Klassiker nicht mehr neue Qualitäten aufbieten kann, als erzwungen wirkende Figurentiefe und ein hübsches Breitwandformat, während er dem historischen Reiz eines klassischen Whodunits praktisch kein Interesse abnötigen konnte, was bleibt dann noch?
Vielleicht eine ironische Aufbrechung? Eine satirische Überhöhung? Eine Steigerung des eh schon komplexen und nicht zwingend ohne göttliche Intervention vorab erkennbaren Plots?
Rian Johnsons „Knives Out“ hat das Problem für das Publikum offenbar gelöst, in Scharen rennen die Vergnügungssüchtigen in die Kinos, um sich sein Ensemble-Murderplot-Piece einzuwerfen und spielen überragendes Geld in die Kassen.
Für mich hat Johnson den Fall leider nicht gelöst, denn er geht nur den halben Weg, um sich dann in wilden Schlenkern zu verlieren. Präzision, Tempo und Witz – essentielle Zutaten auf dem Weg zu einem modernen Whodunit, der klassischen Tätersuche im Krimi – finden hier seltener statt, als es nötig gewesen wäre.
„Knives Out“ ist – abgesehen von einigen beachtlichen Qualitäten – falsch gewichtet, weitschweifig, unentschieden und überlang.
Dabei würde ich Rian Johnson niemals unterstellen, er wäre nicht ein einfallsreiches Kerlchen auf dem Regiestuhl. „Brick“ war ein tolles Debüt, „Brothers Bloom“ immerhin eine Kuriosität, „Looper“ brachte eine neue Seite der SF auf die Leinwand und sein „Star Wars“…naja, der hat immerhin Geld gemacht.
Aber was für Johnson auch gilt: er ist nicht der präziseste und straffste Regisseur und Autor aller Zeiten. Immer wieder fallen in seinem Werk Schlenker, Umwege, Extras auf, die die Lauflänge hoch treiben, den Plot aber vor sich hin mäandern lassen. Bei „Star Wars“ hatte er dann sogar mit Nebenhandlungssträngen zu tun, die nachträglich gar keinen Sinn ergaben.
Natürlich sind „Whodunits“ ein heikles Thema, das nicht jedem liegt. Bei Krimifans sind die „Suchen nach einem Täter in einem größeren Kreis“ natürlich beliebt, in der Filmwelt gelten die Figurenparaden als ziemlich steifes Zeugs mit einem simplen Höhepunkt zum Schluss. Urbritisch bis ins Mark fällt es schwer, so einer scheinbar festgelegten Struktur besondere Reize abzugewinnen.
Aber wenn es nicht trocken und veraltet sein, warum dann nicht mit einem raffiniert gewundenen Plot arbeiten, mit gepfefferten Dialogen, die sich überlebensgroße Figuren gegenseitig an die Köpfe schmeißen, mit Tempo, Witz und Thrills? Die moderne Variante.
Na schön, den raffiniert gewundenen Plot haben wir hier vorliegen, immerhin.
Tatsächlich ist der sogar das Innovativste an dem ganzen Projekt.
Vordergründig die übliche „verdorbene“ Familienansammlung mit der Cluedo-Anordnung („Wer schnitt Thrumbey in der Dachkammer mit dem Dolch die Kehle durch?“), präsentiert der Film schon bald via individueller Rückblenden ein „was wirklich geschah“, womit die Mördersuche immerhin zeitweise aufgebrochen wird, weil nicht klar ist, ob wir einen oder zwei Mörder haben, einen Unfall oder einen Selbstmord oder eine Verschwörung verfolgen.
Die nötige Verunsicherung durch mögliche (falsche) Fährten ist also gegeben und so lädt „Knives Out“ zumindest zum fröhlichen Spekulieren ein, was denn jetzt wirklich passiert ist und vor allem warum.
Aber in diesem Moment kommen wir an den Punkt, wo wir uns fragen, was Johnson jetzt genreimmanent eigentlich präsentieren will. Ein klassisches Krimirätsel? Einen „modern take“ auf alte Muster? Eine sanfte Parodie? Eine grelle Parodie? Eine verspielte Neuanordnung aller bekannten Elemente?
Das Ergebnis ist ziemlich ernüchternd: ein wenig von allem und nichts so richtig.
Denn jetzt müssten wir – zusätzlich zu einem meisterhaften Set Design – eigentlich darauf hoffen können, dass Johnson das namhafte, hier versammelte Ensemble endlich aufeinander losgehen lässt, die Messer sind schließlich gewetzt.
Aber das geschieht nicht – schon in der Einleitung ganz am Anfang, als die Figuren alle samt familiären Verbindungen vorgestellt werden, herrscht eine ratlose Leere, wo man Biss und Bitchigkeit erwarten könnte oder zumindest den einen oder anderen persönlichen Abgrund. Wie im Reality-TV starren die Familienmitglieder etwas ratlos in die Gesichter der noch einmal sie Verhörenden und wissen nicht so recht, was sie sagen sollen. Was sie Interessantes sagen sollen. Also sagen sie irgendwas Unverfängliches. Und als Zuschauer fragt man sich, warum so eine Sequenz eigentlich im Film ist.
Das ist das generelle Problem des Films und seines (seltsamerweise oscarnominierten) Skripts: mit seinem eigentlichen Sujet hat der fertige Film nur rudimentär zu tun und es weiß mit seinen Möglichkeiten nur wenig anzufangen.
Statt das Geschehen auf die Spitze zu treiben, geht Johnson in die Breite: er lässt das Ensemble etwas ratlos in der Kulisse herumstehen, widmet dafür aber viel Laufzeit dem blasierten Gebrabbel seines Meisterdetektivs „Benoit Blanc“, den man weder besonders sympathisch noch besonders raffiniert nennen kann. Denn ihm kommt die eigentliche Protagonistin des Stücks zu Hilfe, die arglose, liebe, herzensgute, wirklich total reine, absolut unschuldige, saubere…Entschuldigung, sind Sie jetzt gerade sanft entschlafen?
Ja, kann passieren, denn die wirklich herzensgute Betreuerin Marta Cabrera, die sich bis zu seinem Ableben um den Bestsellerautor Harlan Thrombey medizinisch gekümmert hat, steht bald nicht nur im Kreuzfeuer und unter Verdacht, sondern ist auch mit der ziemlich exzentrischen physiologischen Abart geschlagen, nicht lügen zu können, ohne sich pflichtschuldigst übergeben zu müssen. Da muss man ja nur die richtigen Fragen stellen, um im Fall voran zu kommen und ein paar Lacher abzumelken.
Leider besteht daraus fast der gesamte Fokus des Plots: aus einem schwadronierenden Detektiv und endlosen Einstellungen der angsterfüllten jungen Frau, die in einem wirklich komplizierten Mordplan geraten ist – oder ihn sogar mit erdacht hat.
Was man vermisst, ist Tempo, Tempo, Tempo und den nötigen sprühenden Witz. „Tod auf dem Nil“ ist heute so ein vielgeliebter Film, weil er galligen Humor transportierte und launige Darsteller von der Leine ließ. Johnson weiß da mit seinen Möglichkeiten nichts anzufangen: Jamie Leigh Curtis, Don Johnson, Michael Shannon und Toni Collette stehen meistens ineffektiv in der Gegend herum, zicken sich etwas an, haben aber spätestens ab Halbzeit gar nichts mehr mit dem Film zu tun, weil der Film dann nämlich den Fokus auf GoodBoy/BadGuy Chris Evans legt, der als Katalysator die Dinge ins Laufen bringt, ehe das klassische Enthüllungs-Solo dann den Fall klären darf.
Natürlich ist das alles ganz hübsch und ordentlich gemacht, der Fall verzwickt, hie und da kann man auch schon heftig schmunzeln (etwa bei der Testamentseröffnung) und ohne Makel gespielt – allein die Gewichtung ist falsch.
Was hätte daraus werden können, wenn man das Rätselspiel erweitert hätte, den Figuren das Janusköpfige mitgegeben hätte anstelle von banalen Sünden, wenn die aufrichtig agierende Ana de Armas ggf. irgendwann vom angsterfüllten Rehlein mal in den etwas agileren Arsch-in-der-Hose-Modus hätte schalten dürfen. Wenn die Messer nicht nur in dem Thron im Salon gesteckt, sondern mal verbal durch den Raum geflogen werden. Wenn man die Eitelkeits-Monologe Craigs ein wenig zusammengekürzt hätte.
Abseits von der total konstruierten, verquasten und vielleicht gerade deshalb noch so interessanten Auflösung, kriegt Johnson nur einen ganz gewöhnlichen Whodunit mit Klischeecharakteren zustanden, er parodiert sie kaum, er karikiert sie nicht, er geht nicht „over the top“.
Stattdessen breitet er das alles über 130 Minuten aus, füllt Löcher zeitweise mit Geschwafel, befreit den Film nie von dem Ballast eine Kinoversion eines TV-Film-Genres, schneidet nie überflüssiges Fett ab, so dass die Pointen zu rar zünden.
Die Vorbilder zitiert er praktisch mit dem ersten Federstrich, präsentiert die Saloneinrichtung als Sammelsurium von Andrew Wykes Spieluhren aus „Sleuth/Mord mit kleinen Fehlern“ von 1972, komplett mit mechanischem Seemann. Aber danach kommt nicht mehr viel, netter Standard, aus dem man problemlos 20 Minuten rauskürzen könnte, um dem Geschehen endlich etwas mehr Drive zu verpassen, woran schon der viel zu mittelmäßige Soundtrack scheitert.
Was man vermutlich nicht schafft: den Fall von vornherein zu durchblicken. (Das ist gut!)
Was man mit aufmerksamen Schauen schaffen kann: ahnen, wer es getan hat und wie die Chose ausgeht.
Dass ein Schwall Erbrochenes dazu gehört, ist leider genauso fehl am Platz wie so manches an Dialog und witzlosem Herumgeeiere, das die unterhaltsame Idee hinter dem Ganzen leider ad absurdum führt. Vielleicht lässt Johnson bei der angedrohten Fortsetzung ja zumindest in Sachen Skript mal jemand anderen ran. Die Engländer sollen so etwas ja können. (5/10)