Ein im Schmerz gekrümmter Mann liegt in Embryonalhaltung in einem halbdunklen Raum auf einem Bett. Auf dem Nachttisch steht ein übervoller Aschenbecher, Tablettenblister liegen herum. Und ein geladener Revolver. Dieses Stillleben könnte praktisch und zeitsparend dazu hergenommen werden, die Geschichte treffend zu illustrieren, die uns Regisseur Todd Phillips zwei Stunden lang erzählt. Das bedeutet, es wird saumselig. Lethargisch. Problembeladen. Der bisher vor allem für seine schnodderigen Bachelor-Komödien der Sorte „Hangover" (2009) und „Old School - Wir lassen absolut nichts anbrennen" (2003) gefeierte Filmemacher versucht sich hier also auf völlig neuem Terrain, wenn er auch bereits mit „War Dogs" (2016) ernstere Themenfelder beackerte. Doch kein Hochgeschwindigkeitsgeschoss wird den unvorbereiteten Kinogänger so hart treffen wie dieses Porträt des „Jokers", sollte er denn immer noch ein nunmehr antiquiertes Bild von der seit 1940 populären Comicfigur im Kopf haben. Wer sich also den berühmten Harlekin traditionsverhaftet allein als einen klaren Fall dissozialer Persönlichkeitsstörung vorstellt, der darf sich auf etwas gefasst machen.
Wie sagte „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?"-Autor Edward Albee einst? „Wenn man eine Gesellschaft kritisieren will, muss man Außenseiter dieser Gesellschaft sein." Der von Joaquin Phoenix brillant und überaus glaubwürdig gespielte Loser Arthur Fleck ist so ein Sonderling, der bei den Menschen um ihn herum keine Akzeptanz findet. Der weder Wärme, noch Gunst erfährt. Der noch nicht einmal sozial wahrgenommen wird. Selbst seine augenscheinlich umnachtete Mutter, bei der er lebt, versündigt sich an ihrem Sohn. Und doch gibt der erfolglose Nonkonformist seine Bemühungen nicht auf, irgendwie im Leben zu reüssieren. Doch einen Fuß in die Tür des Glücks zu bekommen. Er kämpft und er erduldet. Aber seine Bestrebungen und Aktivitäten laufen unweigerlich immer und immer wieder ins Leere. Die von ihm mit letzter Kraft aufgewandte Energie verpufft, seine stoische Hingabe erlischt unter den Tritten einer teilnahmslosen Allgemeinheit, über die wiederum von den Stadtoberen quasi aristokratisch verfügt wird. Wer wäre also besser dazu geeignet, den Menschen den Spiegel vorzuhalten, als so ein von der Gemeinschaft und ihren Granden zum Scheitern verdammter Typ, der bereits der Schizophrenie anheimfällt? Doch greift diese Frage zu kurz. Denn Todd Phillips‘ „Joker" ist zu clever angelegt, als dass er einfache Antworten auf einfache Fragen zuließe.
Ist dieser „Joker" von 2019, also dieser von vielen als der Hollywood-Beitrag des Jahres gehandelte Film nun der überfällige Tritt in den Hintern der von cineastischer Substanzlosigkeit und inszenatorischer Redundanz eingelullten Cineplexgängerschaft? Ist er tatsächlich ein subversives Lehrstück an Kinokultur? Oder ist er doch nur ein leicht zu durchschauender Versuch, allein damit punkten zu wollen, den selbstlaufend-virtuosen Joaquin Phoenix für die Oscars in Form zu bringen und noch dazu das psychische Leiden einer Hauptfigur selbstzweckhaft für Werbezwecke zu nutzen? Ohne Schmu - er ist ein bisschen von allem. Es ist gewieft von Todd Phillips und Scott Silver, den Interpretationsspielraum ihrer Geschichte groß zu halten und in letzter Konsequenz politische Allgemeinplätze zu konterkarieren. Die einen wollen hier das Narrativ des Aufstands gegen die Plutokratie sehen, die anderen vermuten die Werbetrommel der Selbstjustiz gerührt. Beides stimmt. Beides stimmt nicht. Es ist die geschickt arrangierte Konstellation von allem zusammen, die auffällt, die schwer unterhält und intellektuell punktet. Die mittels dieses Blockbusters Diskussionsanreize liefert und einen Impuls setzt, zu reagieren.
Clowns sind nach den Horror-Spaßmachern und Masken-Trägern der letzten Jahre schon lange nicht mehr nur lustig. Vielleicht waren sie es auch noch nie. Sie wirkten immer schon wie traurige Vertreter einer Zunft, über deren Missgeschick selbst die Kleinsten spotten. Doch nie wurde ihr jämmerliches Dasein, ihre aufgesetzte Fröhlichkeit unmissverständlicher enttarnt als heute. Zweckdienlich und nachdrücklich ist in dieser Hinsicht auch der sich über die Spielzeit hinweg wandelnde Charakter des Films. Während die erste Hälfte als ein Drama der schwermütigen Sorte inszeniert wird, wechselt in der zweiten Hälfte der Tenor, wenn auch nicht das Thema, und die Spannung eines Thrillers lädt sich auf. Dabei bleibt das Psychogramm des „Jokers" stets nachvollziehbar und ohne Brüche. Es ist der „Taxidriver" (1976), der sich nun aus einer malträtierten Hülle schält und sich grausam an jenen rächen wird, die ihn zu dem machten, was er ist. Es ist kein Zufall, dass Robert De Niro auch in diesem Film sozusagen selbstreferentiell in eine Rolle schlüpft (In die des abgestumpften Anchormans einer TV-Show). Bei Todd Phillips‘ „Joker" ist allerdings mehr noch als einst beim ersten Kino-Punker der Geschichte nicht nur die Gesellschaft defekt, ihr Opfer ist es auch. Und war es von Anfang an. Die wenig hysterische Herangehensweise an - in der Realität ebenfalls - komplexe Sachverhalte ist es, die hier mental verfängt. Es sind eben bei Licht betrachtet meist mehrere Kräfte, die gewalttätige Konflikte auslösen, welche durch Permutation einzelner Faktoren nicht verhinderbar sind. Und es ist eine Leistung des Schreiberteams, die in diesen Dimensionen übliche Gut-Böse-Verteilung aufzubrechen und differenziert und vielschichtig vorzugehen. Es wäre sonst ein Leichtes, die „Purge"-Bilder brennender Straßenzüge am Ende des Films fehl zu deuten und als Fazit einer vermeintlichen politischen Stoßrichtung zu interpretieren.
Todd Phillips‘ „Joker" ist ein Film, der unserer Zeit wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Zukunftsängste verquicken sich mit der mangelnden Bereitschaft anderen zuzuhören zu einer unheilvollen Mixtur, die womöglich eines Tages toxisch wirkt. Falls sie es nicht schon tut. Der in seinem Fatum gefangene Arthur Fleck mag als Metapher für eine westliche Gesellschaft stehen, die zunehmend kränkelt. Die geistig zu behäbig ist, sich der Realität gewahr zu werden und ihr Handeln entsprechend daran auszurichten. Am Ende der sich immer schneller drehenden Abwärtsspirale steht dann, wie beim erfolglosen Witzeerzähler, unserer Spezies durchaus gemäß, die Katharsis der Gewalt. Und wieder wird es keinen anderen Ausweg gegeben haben. Ein weiteres Mal werden nur die Anderen die Schuld an der Eskalation tragen. Wie sollte es denn auch anders sein - wenn nur noch der Psychiater hätte helfen können?
Es ist vielleicht gar nicht so schlecht, das Massenkino unserer Tage thematisch aufzupäppeln. So meinen jedenfalls nicht wenige von denen, die immer seltener in die großen Tempel pilgern, weil dort vieles droht, in einem nicht enden wollenden Pixelsturm fortgeblasen zu werden. Dabei führte schon Christopher Nolans „Dark Knight" (2008) unvergessen vor Augen, dass es keiner Schlacht aus dem Computer bedarf, einen kommerziell erfolgreichen Film zu inszenieren. Todd Phillips hat sein Publikum jedenfalls kalt erwischt und den Ton voll getroffen, den offenbar viele Kinogänger als angenehm empfinden. Es wäre wünschenswert, wenn solch ambitioniertes Filmschaffen, was potentiell massentaugliche Produktionen angeht, Schule machen würde. In dieser Hinsicht stirbt die Hoffnung zuletzt, dass das mitunter wirklich anstrengende Lachen dieses merklich kranken Menschen - heilsam wirkt.