In einem gesunden Universum, dessen Sterne im völligen Gleichgewicht stehen, gäbe es keinen Platz für eine Kreatur wie den von Joaquin Phoenix interpretierten Joker. Nehmen wir doch mal das Universum von Marvel. Hier werden Dinge von kosmischer Gültigkeit unter Millionen von Augen entschieden. Gutes bekämpft Böses, während die ganze Welt Zeuge ist. Weil Städte explodieren und Planeten zertrümmern, bleibt nicht viel Zeit für psychoanalytische Bemühungen. Die Geburt eines Helden erfolgt stets im Angesicht der drohenden Apokalypse; Endspiele werden mit einem großen Knall entschieden, nicht mit leisem Wimmern in abgehalfterten Apartments. Was wissen wir zum Beispiel schon von Captain Americas kleinen, schmutzigen Geheimnissen?
Von derartiger Reinheit kann im DC-Universum der Warner Studios nicht die Rede sein, selbst wenn sie einst angestrebt wurde. Kometeneinschläge lassen die Arbeit der Weltenplaner noch im Aufbau begriffen wieder zusammenfallen wie ein fragiles Kartenhaus. Während einzelne Planeten den Schöpfern durchaus gelingen, scheitert es immer wieder an der Installation eines Sonnensystems. Doch wo Sterne erlöschen, hat (bislang) noch immer jemand einem neuen Stern die Glut des Lebens eingehaucht. Neuanfänge mit Paukenschlägen sind bei Warners DC-Adaptionen an der Tagesordnung. Sie erlauben den Konstrukteuren eine Unabhängigkeit, von der wiederum die Paradiesverwalter von Marvel nur träumen können: Auf ein quietschbuntes Unterwasser-Abenteuer („Aquaman“) folgt eine ausgelassene Growing-Big-Fantasie („Shazam!“) folgt... das düstere Psychogramm eines geschundenen Mannes im dunklen Gotham City des Jahres 1981.
In einem perfekten Universum wäre das eine unmögliche Entwicklung. „Joker“ ist das Produkt des kontinuierlichen Scheiterns eines Konzerns, den es nach dem Trial-and-Error-Verfahren auf riskante Abwege verschlagen hat. Riskant ist ein Psychogramm über den vielleicht populärsten Villain der Comic-Geschichte auf mehreren Ebenen: Er droht Ursprünge aufzudecken, die kein Comic-Fan jemals wissen wollte. Er legt sich offensiv (d.h. über die geballte Ausdrucksfähigkeit eines Weltklasse-Schauspielers wie Joaquin Phoenix) mit Heath Ledger an, dessen Darstellung von 2008 längst Ikonen-Status erlangt hat. Und vor allem prescht er wie eine Wildsau in ein gesellschaftliches Klima, in dem viele Menschen nicht dazu in der Lage scheinen, eine schmerzhafte Analyse des Abgründigen zu verdauen.
Das Medien-Echo war aber letztlich gigantisch; ein Indiz, dass man den comic-untypischen, beklemmend realistischen Film durchaus ernst zu nehmen gedenkt. Gazetten aller Art, auch jene, die sonst nicht viel mit Film zu tun haben, springen dem Werk des ehemaligen Comedy-Spezialisten Todd Phillipps entweder zur Seite oder dreschen darauf ein, wahlweise weil es zu in der Psychoanalyse zu banal, als Quasi-Mixup von „Taxi Driver“ und „King of Comedy“ zu unselbstständig oder mit seinen zwei Szenen der Selbstjustiz zu brutal sei; oder man bemängelt, dass sich die Charakterstudie kurz vor dem letzten Akt in einen Kokon zurückzieht, um sich schließlich doch als schriller Comicfilm zu entpuppen, in dem die Titelfigur mit Schminke und bunter Kleidung Ausdruckstänze aufführt, um dann von einem wütenden Mob zum Symbol stilisiert zu werden, das im Schein brennender Autos endlich die Zustimmung erfährt, die es bis dahin nie gekannt hat.
I used to think my life was a tragedy. But now I realize, it’s a comedy. Psychologisch klingt das gegenüber der Realität stark vereinfacht, als wenn sich die Ironie des traurigen Clowns mit Trotz ins Gegenteil verkehrt. Als wäre Arthur Fleck ein Gratwanderer zwischen den klaren Grenzen des Schwarz und Weiß, mit dem auch der Inker beim Comicverlag Räume schafft. Tatsächlich gestaltet sich die vom Joker empfundene Realität am Ende eben so einfach: Die Geburt des Supervillains geht einher mit der Erkenntnis, dass eigentlich alles genau andersherum ist als bisher empfunden – und dass die Welt so herum plötzlich einen Sinn ergibt. Mit dieser einfachen Logik spielt das Drehbuch, indem es die subjektive Perspektive der Hauptfigur mehrfach annimmt, um eine alternative Realität zu schaffen, die wesentlich klarer erscheint als die ungefilterten, schmutzigen Bilder einer Stadt, die bereits dem Untergang geweiht ist.
„Joker“ bietet als Origin-Erzählung aber nicht etwa einfache Lösungen für eindeutige Probleme im Sinne eines stumpfen Rache-Thrillers, sondern schildert den harten Kampf eines Mannes, der sich in mentaler Isolation befindet, mit einem Blick für die komplexen Wechselwirkungen verschiedener Ursachen, die auf seine Persönlichkeitsentwicklung Einfluss genommen haben. Anders als Ledger oder Nicholson, die das pathologische Lachen als kontrolliertes Ventil zur Verarbeitung tief verborgener Psychosen interpretieren, wird hinter Phoenix' Vorstellung ein reales Krankheitsbild sichtbar, das deutlich macht, dass hinter dem vermeintlichen Monster in Clownsgestalt ein Mensch steckt, der einstmals Hilfe benötigt hätte (vor der irreversiblen Transformation in den Joker). Die Beziehung Arthurs zu seiner Mutter (Francis Conroy) ist diesbezüglich besonders ertragreich, aber auch durch Zufallsbegegnungen mit Wildfremden oder den Kontakt mit Arbeitskollegen setzt sich das Puzzle stückweise zusammen. Im Gegensatz zur Politik oder zu vielen Informationsmedien sucht sich Phillips keinen einzelnen Sündenbock. Erziehung, Großstadtanonymität, vorgelebte Idolfunktion von Prominenten... es ist die gesellschaftliche Gesamtentwicklung, die unter Anklage steht.
Der Regie gelingt es besonders gut, die zerbröckelnde Fassade der Normalität am Rande des Ausnahmezustands darzustellen. Ohne die schwelenden Unruhen in radikalen Bildern ausschlachten zu müssen, wird die angespannte Sachlage auch anderweitig deutlich: Zwischen den Zeilen der Dialoge, deren Inhalte semantisch schwer in der Luft liegen, wird dem Superorganismus Gotham attestiert, langsam verrückt zu werden. Auf offiziellen Anlässen voller Glanz und Gloria wird die Außenwelt gekonnt ignoriert. Bei zwielichtigen Begegnungen im Halbdunkeln von Gassen, Zugabteilen und Aufzügen zeigt die Welt ihre hässliche Fratze. In den hysterischen Reportagen der Radio- und TV-Medien werden die reaktionären Tendenzen sichtbar. Mit Blick auf die Dramaturgie erreicht Phillips zum zweiten Drittel hin völlig organisch einen Point of No Return, nach dessen Überschreiten weder Fleck noch Gotham zu retten ist. Die Comic-Regeln beginnen zu greifen und ziehen gekonnt die Fäden zu Batmans Ursprüngen, während der erste Tropfen des überlaufenden Fasses gerade Richtung Boden fällt.
Fraglich natürlich trotzdem, ob das ohne Joaquin Phoenix alles so nahtlos funktionieren würde. Er hat mit „A Beautiful Day“ gerade erst eine vergleichbare Rolle gespielt, legt nun aber mit beängstigender Wucht weitere Feuerscheite nach und wird völlig zu Recht für seine Leistung gefeiert. Phoenix verschwindet auf Anhieb hinter der Grimasse Flecks, die mit der Zeit hinter der Grimasse des Jokers verschwindet. Charlie Chaplins Leichtfüßigkeit aus „Moderne Zeiten“ spiegelt sich noch in einer frühen Szene, die bereits in Demütigung endet, um nach und nach jedes Zutrauen in die Menschen zu verlieren. Die Asynchronität zwischen Fleck und seiner Umgebung macht Phoenix auf brillante Weise spürbar, indem er Ursache und Wirkung durch Zeitverzögerung auseinanderreißt. Der Darsteller zwingt uns reihenweise in unangenehme Momente, die man von Fremdscham erfüllt durchsteht, allenfalls hin und wieder aufgebrochen von friedvollen Tagträumen, in denen plötzlich doch alles gut wird. In gewisser Weise liefern Phillips und Phoenix genau die Entmystifizierung, die man vom Film hatte erwarten können; und doch verliert der Joker keinen Deut seiner Faszination, weil sein Krankheitsbild komplex genug gezeichnet ist, dass es trotzdem noch voller unergründlicher Geheimnisse steckt.
Jetzt, da Arthur Fleck seine wahre Gestalt angenommen hat, möchte man natürlich unbedingt sehen, wie Joaquin Phoenix die Figur weiter ergründet. Schließlich haben sich seine Flügel gerade erst zu einem großen Smiley ausgebreitet. Es liegt in der Natur des Zuschauers, ihn nun lächeln sehen zu wollen. Aber wer weiß schon, was die Produzenten bei Warner aushecken. Das DC-Universum ist unprognostizierbar.