„Wer hat dich denn die Treppe runtergestoßen?!“ – „Niemand – ich kann schon allein fallen!“
„Kahlschlag“ ist ein öffentlich-rechtlich produzierter Fernsehfilm aus dem Jahre 1993, der sich mit dem zunehmenden Rechtsradikalismus Jugendlicher in der Nach-Wende-Zeit auseinandersetzt. Regie führte der gebürtige Brasilianer Hanno Brühl, der damit nach „Sehnsucht“ seinen zweiten Spielfilm ablieferte.
Der Jugendliche Robin (Björn Jung, „Rembrandt“), Sohn von getrennt lebenden Eltern, der mit seiner Mutter (Angelika Zielcke, „Der Kommissar“) und seiner kleinen Schwester zusammenlebt und noch zur Schule geht, hat mit typischem Teenager-Frust zu kämpfen, ist ein pickliger Typ mit Scheißfrisur. Er beobachtet als Außenstehender, wie ein paar seiner Mitschüler (u.a. Willi Herren, „Lindenstraße“) sich dem Rechtsradikalismus verschreiben. Als er eines Tages von türkischstämmigen Jugendlichen abgezogen wird, vollzieht er einen folgenschweren Schritt: Er rasiert sich den Schädel kahl, glaubt, damit ein Skinhead zu sein und schließt sich den örtlichen Neo-Nazis an…
„Die türkische Übermacht!“
Als in den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung der radikale Rechtsextremismus sprunghaft anstieg und immer mehr Jugendliche zu „Nazi-Skins“ mutierten, jener insbesondere durch ihre Gewalttätigkeit aufgefallenen Perversion der ursprünglichen Skinhead-Subkultur, gab es die verschiedensten Formen des Umgang mit diesem Phänomen seitens der Bildungsbürgerschaft, bis es schließlich auch in Form von TV-Spielfilmen aufgegriffen wurde – oft von Menschen, denen jeglicher Einblick in die Szene fehlte. Häufig übte man sich in einem Betroffenheitsspagat zwischen Verharmlosung und Dämonisierung, verarbeitete diverses Halbwissen und Klischees, die man aufgeschnappt hatte und bewies letztlich, dass man kaum Ahnung von der Materie hatte. Drehbuchautor Dieter Bongartz debütierte mit „Kahlschlag“ und lieferte zumindest einige gute Ansätze. So zeigt er zum einen die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der seinerzeit Nazi-Skins zum öffentlichen Bild in einigen deutschen Städten gehörten und mit der diese auf provokante Weise ihre Positionen vertraten. Auf diese Weise kommt Robin mit ihnen in Berührung, lernt sie als ein kultiviertes Außenseitertum kennen, mit deren Hilfe er sich aus seiner Opferrolle zu befreien erhofft und gleichzeitig auf sich aufmerksam machen, Eltern, Lehrer, Mitschüler etc. mit unreflektierter Ausländerfeindlichkeit provozieren und verstören kann – als Befreiungsschlag aus der Tristesse und durchaus mit Erfolg.
Bongartz und Brühl verwenden „Skinhead“ wie so viele damals als Synonym für Neo-Nazis mit kurzen Haaren und einem bestimmten Dresscode, vermutlich ohne es selbst besser gewusst zu haben. Dass Robin den modischen Fauxpas begeht, seine Hose gleich doppelt mit Gürtel und Hosenträgern zu sichern und darüber hinaus so überhaupt keine Ahnung vom Kult, dessen Musik etc. hat, liefert jedoch ein gar nicht einmal unrealistisches Bild von damaligen Szeneeinsteigern. Robin geht es ums Schockieren mittels Radikalität, um die totale Provokation. Mit seinen „Kameraden“ zieht er nun selbst Leute ab, sie beschmieren Wände mit Parolen, saufen Hansa-Pils aus Dosen – und lassen sich bereitwillig von älteren Nazi-Kadern infiltrieren und rekrutieren, die sich ob solcher noch formbarer junger Menschen diebisch die Hände reiben. So gerät Robin neben Partys, auf denen Pogo zur Naziband „Skrewdriver“ getanzt wird, in die Fänge der Scheitelnazis Bernd und Fritz, die ihn und seine Kumpel ideologisch indoktrinieren, zum Wehrsport treiben und mit Waffen ausstatten. Robins Freundin Claudia (Miriam Rosenstiel) hat sich von ihm abgewandt, er bändelt nun mit Mascha (Natascha Bonnermann, „Dr. Mad – Halbtot in weiß“), einem Mädchen aus der Nazi-Szene, an. Nachdem eine Prügelei mit Türken verlorenging (was der Film leider nicht zeigt), bläst man mit der ganzen Bande zum Überfall auf ein Jugendzentrum, „Oi! Oi! Skinhead, get your hair cut!“ skandierend (was ziemlicher Blödsinn ist, stammt das Zitat doch von der eindeutig nichtfaschistischen Band The Last Resort) und Mollies werfend. Eine Massenschlägerei mit den Besuchern des JUZ entbrennt, u.a. mit einer weiblichen Judo-Gruppe (!), die Bullen rücken an und stellen sich dazwischen, die Glatzen hauen ab.
Hier installiert „Kahlschlag“ nun den Punkt, an dem Robin umzudenken beginnt, denn beim Angriff wurde ein kleines Mädchen von Leuchtmunition getroffen. Robin bekommt Gewissensbisse, möchte wissen, wie es dem Opfer geht und bricht schließlich mit seinen „Kameraden“ – was zur Folge hat, dass sie nach seiner körperlichen Unversehrtheit trachten, sogar als er nach einem Verkehrsunfall auf einem geklauten Motorrad, bei dem unklar bleibt, ob es sich um einen Selbstmordversuch handelte, schwerverletzt im Krankenhaus landet. So zeichnet „Kahlschlag“ einen sicherlich nicht gänzlich an den Haaren herbeigezogenen Ein- und Ausstieg aus der Naziszene nach, die anfänglichen Bilder eines als unbefriedigend und trist empfundenen Alltags erzeugen durchaus eine gewisse Wirkung und die Familiensituation – alleinerziehende Mutter, getrennt lebender Bonzen-Vater (Wolfgang Kraßnitzer, „Unter Wölfen“), der seine Kinder nicht bei sich haben möchte – ist sicherlich eine alles andere als einfache und Geborgenheit spendende. Wenngleich die Darstellung der Faschisten bestimmt nicht ohne Überzeichnung auskommt, weist sie dennoch ausreichende Parallelen zur Realität auf. Offenbar hatte man sich diesbzgl. einige Informationen eingeholt; Nazi-Fritz als trotz seiner Ideologie Homosexuellen zu zeigen, der die Anwesenheit junger Knaben genießt, dürfte inspiriert worden sein von Michael Kühnen oder anderen schwulen Nazis. Das Happy End wurde sogar mit einem nachdenklichen, fast melancholischen Moment versehen. Die Glaubwürdigkeit der exemplarisch konstruierten Handlung leidet jedoch unter den mitunter laienhaften Darstellern. „Kahlschlag“ verzichtet derweil interessanterweise auf jegliche Erklärungsversuche, weshalb die Nazi-Ideologie so hanebüchen und hirnrissig ist, scheint in erster Linie lediglich die körperliche Gewalt zu verurteilen. Alternative, wirkliche Subkultur wie den wahren Skinhead-Kult, (Oi!-)Punk oder meinetwegen auch ganz etwas anderes bietet der Film zudem überhaupt nicht an, was indes kaum ein solcher Film tut und ich auch nicht erwartet habe, da dies vermutlich über den Horizont der Filmemacher hinausgegangen wäre. Inwieweit „Kahlschlag“ eine pädagogische Wirkung bei gefährdeten Jugendlichen oder bereits in die Szene eingetauchten Mitläufern zu erzielen in der Lage ist, sei daher einmal dahingestellt. Unterm Strich also lediglich ein durchschnittlicher Film, der sich wenigstens an seiner Thematik nicht gänzlich die Finger verbrennt. Für die Filmmusik zeichnet übrigens Piet Klocke verantwortlich, aber, nein, er hat keine RAC-Songs komponiert...