Regisseurin Julia von Heinz („Ich bin dann mal weg“) verfilmte für den vierten Schwarzwald-„Tatort“ um das Ermittlungsduo Franziska Tobler (Eva Löbau) und Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) ein Drehbuch Magnus Vattrodts, das sich an den realen Fall der Ausreißerin Maria Henselmann anlehnt. Die 13-jährige Freiburger Schülerin war 2013 mit einem 40-Jährigen durchgebrannt und fünf Jahre später – nach Abschluss der Dreharbeiten – plötzlich wieder aufgetaucht. Das Ergebnis ist eine Melange aus Krimi, Beziehungsdrama und Road-Movie mit Coming-of-Age-Elementen, die im heißen Sommer 2018 gedreht und im März 2019 erstausgestrahlt wurde. Nach seinem krankheitsbedingten Ausfall im vorausgegangenen Schwarzwald-Fall war konnte Wagner nun wieder seine Rolle als Kommissar an Toblers Seite ausfüllen.
Emily Arnold (Meira Durand, „Hier kommt Lola!“) wird vermisst, seit sie vor zwei Jahren 13-jährig nicht von ihrem Job im Tierheim nach Hause gekommen ist. Ihre Mutter (Kim Riedle, „Back For Good“) glaubt jedoch, dass sie Emily vor ihrer Wohnung wiedergesehen habe und meldet dies sofort der Polizei. Berg hält die Mutter für unglaubwürdig und schickt Kollegin Tobler vor, die auf einer Überwachungskamera tatsächlich ein Mädchen erkennt, das Emily sein könnte. Tatsächlich war Emily kurz vor Ort, ist aber eigentlich mit dem mehr als 30 Jahre älteren Martin Nussbaum (Andreas Lust, „Wolfzeit“) unterwegs, mit dem sie vor zwei Jahren ihr Elternhaus verlassen hatte. Weitestmöglich müssen sich beide von der Öffentlichkeit abschotten, um nicht entdeckt zu werden. Emily scheint dieses Abenteuer, das sie so sehr einschränkt, langsam satt zu haben, Martin wiederum braucht dringend Geld und spielt seiner Mutter (Ursula Werner, „Bornholmer Straße“) dafür den sorgenden Sohn vor. Als ein junger Dieb die Scheibe seines Autos einschlägt und das Notebook stiehlt, verwickelt er ihn in einen Unfall, der für den Dieb tödlich endet – und Kommissar Berg auf den Plan ruft…
Benannt nach einem Rio-Reiser-Song illustriert Julia von Heinz‘ „Tatort“ in sonnendurchfluteten Bildern die ambivalente Beziehung zwischen einem pubertierenden Mädchen und einem wesentlich älteren, erwachsenen Mann – die schwer zu kriseln beginnt. Ist Emily im einen Moment noch die verliebte junge Frau, verfällt sie im nächsten in kindliche Verhaltensmuster, zum Missfallen ihres Partners mit Lolita-Komplex. Emilys Gründe, sich ihm anzuschließen und hinzugeben, bleiben diffus, vermutlich hat sie es in der familiären Enge zwischen mehreren Geschwistern und einer alleinerziehenden, evtl. überforderten Mutter nicht mehr ausgehalten und in Martin Vaterersatz, erfahrenen Freund und Abenteuer zugleich gefunden. Offensichtlich wird, dass er sich stärker sexuell zu ihr hingezogen fühlt als sie zu ihm, was ebenso Konfliktpotential birgt wie Emilys langsames Ausbrechen aus ihrem Gefängnis. Emily ist keine voll ausgereifte junge Frau, sondern ein halbes Kind, unentschlossen, wankelmütig, auch mal frech oder trotzig. Martin arbeitet hart daran, ihre Beziehung im Verborgenen aufrechtzuerhalten, erhält jedoch nicht immer die Gegenleistungen dafür, die er erwartet.
Seit sich Emily wieder näher an ihrem Heimatort befindet, scheint der Freiheitsdrang in ihr zu wachsen. Entgegen den Absprachen begibt sie sich unter andere Menschen, lernt dabei die gleichaltrige Tankstellenaushilfe Jona (Luisa-Céline Gaffron, „Looping“) kennen und hat viel Spaß dabei, sich einmal nach Herzenslust altersgerecht zu verhalten. Als Konstante im Leben bleibt ihr sonst nur ihr Hund Luno, was natürlich auf Dauer keine menschlichen Kontakte ersetzen kann. Martin reagiert wütend und zunehmend verzweifelt auf Emilys Flüggewerden, was in einer Gewalttat gipfelt. Damit verleiht ihm der Film gegen Ende soziopathische Züge, die das zuvor zur Disposition gestellte Gut-Böse-Schema dann doch wieder bedienen. Das ist etwas schade, denn spannender wäre es gewesen, hätte das Drehbuch die beiden sich zwar schmerzhaft, aber letztlich doch irgendwie einvernehmlich trennen lassen – diese Zuspitzung hätte es nämlich gar nicht gebraucht, um unbequeme Fragen nach der Grenzziehung zwischen Selbstverantwortung und Manipulation, Not und Ausbeutung, freiem Willen und sexuellem wie psychischem Missbrauch zu stellen.
Meira Durand war zum Drehzeitpunkt bereits volljährig, zeigt etwas nackte Haut, vor allem jedoch viel Gespür für ihre Rolle und scheint sich wohl darin zu fühlen, einmal die 15-jährige Lolita spielen zu dürfen. Von Heinz findet einen sensiblen Umgang mit dem Thema, verfällt nur selten in einfache Erklärungsmuster, beweist ein Auge für Bilder trügerischer Schönheit und ein Händchen für eine von Aufbruch und nahendem Ende zugleich und damit Melancholie geprägten Atmosphäre.
„Er hat wohl etwas anderes in mir gesehen als ich in ihm“, sagte Henselmann nach ihrer Rückkehr. Das trifft es ganz gut und ist die offensichtliche Quintessenz dieses ungewöhnlichen, weil ohne Mord, Whodunit? oder andere „Tatort“-typische Ingredienzien auskommenden Falls – denn ein vielleicht frühreifes, aber sich dennoch erst in ihrer Entwicklung zur erwachsenen Frau befindendes Mädchen dauerhaft an sich binden zu können, ist nun einmal nur sehr, sehr selten Männern möglich, die ihre Väter sein könnten – und das ist auch gut so. Weniger gut ist der Ausgang Toblers frisch diagnostizierter Schwangerschaft, die diesmal den Privatanteil auf Ermittlerseite abdeckt. Dafür erklingt Rio Reiser mehrmals auf der Tonspur und singt für uns und schreit für uns.