Mit „Wonder Woman“ war das Filmuniversum von DC dem Marvel Cinematic Universe mal einen Schritt voraus: Der erste offizielle Eintrag zu den riesigen Filmkosmen mit einer weiblichen Heldin als Protagonistin, nachdem das MCU Black Widow jahrelang nur als Nebencharakter eingesetzt hatte und Werke wie „Elektra“ für sich allein standen. Nun zog Marvel also mit „Captain Marvel“ nach.
Obwohl auch „Captain Marvel“ eine Origin Story ist, so geht er die Geschichte etwas anders an, startet mitten im Geschehen. Vers (Brie Larson) ist eine Kriegerin der Kree, die ihr Gedächtnis verloren hat und von ihrem Mentor Yon-Rogg (Jude Law) für den Kampf gegen die gestaltwandelnden Skrulls ausgebildet wird. Die Kree werden von der gestaltlosen Supreme Intelligence regiert, zu ihren Reihen gehören unter anderem Ronan the Accuser (Lee Pace) und Korath (Djimoun Hounsou), die bereits in „Guardians of the Galaxy“ auftraten, womit „Captain Marvel“ schon früh klar macht, dass er vor den anderen Einträgen ins MCU spielt. Korath gehört wie Vers zu Yon-Roggs Eliteeinheit, mit der Vers in ihren ersten Einsatz ausrückt.
Wie eine Mischung aus der Commando-Einheit eines Militäractionfilms und einem Erkundungstrupp aus dem „Star Trek“-Universum gehen die Kree-Krieger vor, scannen die Umgebung auf der Suche nach einem verschollenen Spion und geraten dennoch in einen Hinterhalt. Die Skrulls nehmen Vers im Laufe des Gefechts gefangen und spannen sie auf ihrem Schiff in eine Maschine, die Vers‘ Gedächtnis durchsucht. Dabei kommen verborgene Erinnerungen in ihr hoch: An ein anderes Leben, an eine Wissenschaftlerin (Annette Benning), an eine Pilotin namens Carol Danvers. Der Planet, auf dem nicht nur Vers‘ Ursprünge, sondern auch wissenschaftliche Erkenntnisse, die den Krieg zwischen den Skrulls und den Kree entscheiden können, vermutet werden, ist natürlich die Erde.
Vers kann sich aus der Gefangenschaft der Skrulls befreien und landet auf der Erde. Die Ankunft der Außerirdischen wird von dem S.H.I.E.L.D.-Agenten Nick Fury (Samuel L. Jackson) bemerkt, der bald auch in den Konflikt der Alienrassen hineingezogen wird...
Der Prequelansatz erklärt nicht nur warum Captain Marvel bisher noch keine Rolle im MCU spielte, sondern bietet auch Anlass für einige Retrospielereien, dieses Mal allerdings nicht mit den allseits beliebten Eighties, sondern den 1990ern. Carol kracht nämlich im Jahr 1995 durch die Decke einer Blockbuster-Videothek, in der sie nicht nur eine VHS des Raumflug-Klassikers „Der Stoff aus dem die Helden sind“ im Regal findet, sondern auch einen Pappaufsteller von „True Lies“, dessen Arnie-Pappfigur sie erst einmal irritiert den Kopf wegpustet, weil sie ihn für einen Gegner hält – ein kleiner Seitenhieb auf die Ablösung männlicher Heroen durch eine Heldin in diesem Film. Auch sonst gehen die Anspielungen munter weiter: Eine Katze auf einer Airforce-Basis heißt in Anspielung auf „Top Gun“ Goose, Stan Lee blättert bei seinem letzten Cameo-Auftritt im Script von „Mall Rats“, in dem er 1995 mitspielte, während T-Shirts und Musik auf zeitgenössische Bands wie Nirvana und Guns N‘ Roses verweisen. Den Soundtrack bestreiten zum Teil auch bewusst Frauenpower-Bands jener Jahre, was seinen Höhepunkt in einer Kampfszene findet, die mit „Just a Girl“ von No Doubt unterlegt ist.
Jener Fight stellt auch den Actionhöhepunkt des Films dar, dessen Spektakelszenen unterschiedlich gut gelungen sind. Ist der Trainingsfight zwischen Vers und Yon-Rogg übersichtlich inszeniert und famos choreographiert, so geht bei Szenen wie Vers‘ Flucht vom Skrullschiff etwas die Übersicht verloren. Und intimeren, stark choreographierten Kämpfen wie dem „Just a Girl“-Fight oder jene köstlichen Szene, in der sich Vers mit einem Skrull prügelt, der die Form einer alten Oma angenommen hat, steht eine etwas öde CGI-Kaputtmach-Szene gegen Ende entgehen, in welcher der Rechner zwar Überstunden schiebt, es aber an Bodenhaftung und visuellen Ideen mangelt – das ist schade, gerade angesichts manch anderer Kniffe des Films.
Der von dem Duo Anna Boden und Ryan Fleck inszenierte und von den beiden zusammen mit Geneva Robertson-Dworet geschriebene „Captain Marvel“ leistet sich auch einige überraschend differenzierte Beobachtungen zu Feindbildern, zum Schein und Sein in Konflikten, in denen beide Parteien auf der richtigen Seite zu stehen glauben. Ähnliche Ansätze verfolgten bereits Werke wie „Captain America: The Winter Soldier“, „Black Panther“ und „Captain America: Civil War“, auch wenn es in „Captain Marvel“, analog zu den beiden Erstgenannten, dann doch eine Art richtige Seite gibt. Nebenher verhandelt „Captain Marvel“ ironisch auch den marginalisierten Status von Frauen in Männerdomänen wie dem Militär oder dem Superheldentum, gern auch durch die ironische Buddy-Movie-Komponente, bei welcher die sonst so obercoole Socke Nick Fury hier mal klar die zweite Geige spielen muss. Aber er steht in „Captain Marvel“ ja noch am Anfang seiner Karriere.
Aus diesen Gründen hat man Samuel L. Jackson und Clark Gregg in ihren MCU-Paraderollen digital verjüngt. Derartige Tricks gab es auch schon in anderen Marvelfilmen in Rückblenden, aber derart ausgiebig genutzt wurde die Technik bisher noch nicht. Und das mit Erfolg: Nur in wenigen Momenten sieht man beiden Akteuren das digitale Facelifting an, unter dem die beiden in ihren gewohnten MCU-Rollen mal wieder markante Akzente setzen. Auch sonst sind die Digitaltricks auf gewohnt hohem, wenn auch nicht Maßstäbe setzenden Niveau, von kleinen Patzern mal abgesehen. Ebenfalls etablierter Standard im Hause Marvel: Eine Post- und eine Mid-Credit-Sequenz, wobei letztere nicht nur verschiedene Superhelden auftreten lässt, sondern auch den Bogen zu „Avengers: Infinity War“ und dessen Nachfolger schlägt.
„Captain Marvel“ profitiert von seiner Hauptdarstellerin Brie Larson, die Frauenpower gelassen und überzeugend auf die Leinwand bringt, deren Heldin lautstark, frech und ein wenig überheblich ist, ohne dabei das Egomanen-Level von Tony Stark oder Doctor Strange zu erreichen. Da kommt noch am ehesten Samuel L. Jackson mit, kleinere Akzente setzen Jude Law sowie Annette Benning, für den Rest bleibt wenig Raum in dem Film – weder für Lashana Lynch als Carols Fliegerbuddy noch für Gemma Chan und Djimon Hounsou als Kree-Krieger oder Ben Mendelsohn, der den Skrull Talos meist eh unter einer dicken Schicht Alien-Make-Up geben muss.
Technisch und darstellerisch kann man wenig an „Captain Marvel“ herummeckern, die kleinen Easter Eggs und Anspielungen erfreuen den popkulturgestählten Zuschauer, doch dramaturgisch läuft es leider nicht immer rund. Die Plotstränge um den Alienkrieg, die Anfänge von S.H.I.E.L.D. und Vers‘ Identitätssuche sind zwar miteinander verbunden, doch immer wieder tritt der eine oder andere zu sehr in den Hintergrund, ehe er später wieder aufgegriffen wird. Auch fehlt dem Ganzen manchmal der Drive, zumal „Captain Marvel“ sich als Teil der schon einige Jahre andauernden Superheldenwelle mit diversen Vergleichsfilmen konfrontiert sieht – und von denen waren einige nun mal merklich temporeicher, kompakter und fokussierter.
Solides Popcorn-Entertainment mit starker Hauptdarstellerin, meist gelungenen Effekten und manchem netten Gag bezüglich des 1990er-Kolorits (Stichwort: Technologischer Stand der Dinge) bietet „Captain Marvel“ immer noch. Nicht jede Actionsequenz ist allerdings gleich gut, dramaturgisch könnte die Angelegenheit auch etwas runder und gradliniger sein. Da war DCs „Wonder Woman“ doch ein Stück besser.