Aussteigen und ankommen...?
Unsere Oscarhoffnung nächstes Jahr, der beste deutsche Filme des Jahres und einfach ein kostbares Kinohighlight, das sich in den nächsten Wochen und Monaten hoffentlich noch zum Sleeperhit mausert - ich rede von „Systemsprenger“, einem der intensivsten Filmerlebnisse der letzten Zeit, über ein junges, äußerst aggressives und impulsives Problemmädchen, das im klassischen System und der Gesellschaft, von ihrer Mutter bis zu etlichen Schulen und Heimen, einfach keinen Platz geschweige denn Ruhe, Frieden oder Besserung findet...
Was. Ist. Das. Für. Ein. Heftig. Guter. Film. Wow! „Systemsprenger“ hat mich abgeholt, mitgenommen und umgehauen. Für mich ein weiterer Beweis, dass das deutsche Kino massives Talent hat und kann. Wenn es denn will und man es lässt. Bei keinem anderen Film waren die Reaktionen im dunklen Kinosaal 2019 heftiger, bei keinem anderen Film dieses Jahr (abgesehen von „Parasite“ vielleicht noch) war ich auf Anhieb sicherer, hier einen modernen Klassiker zu sehen. Nicht nur des deutschsprachigen Films, sondern des Weltkinos. Wenn der in den kommenden Monaten nicht auch international mächtige Wellen schlägt, dann müsste mich mein Filmgespür komplett verlassen haben. Das ist mein diesjähriger „Victoria“, selbst wenn beide kein Bisschen miteinander vergleichbar sind und „Systemsprenger“ um ein Vielfaches emotionaler, bodenständiger, echter ist. Ungekünstelt und eindringlich wie das Leben selbst. Ein rosaner Wutknubbel für die Ewigkeit, ein Kampfzwerg auf Kriegsfuß mit der Welt und sich selbst. Sensibel und stampfend, ein Orkan und die Sonne. Systemkritischer Dampfhammer der Gefühle. Und das ist ein Regiedebüt?! Holy Hell...
Die kleine Helena Zengel hat mich einfach sprachlos zurückgelassen und spielt die uneinfangbare und unfassbar schwer zu handelnde Benni... krass. Da fehlen mir ehrlich gesagt die Worte, wie ihr wohl nach so manch einem schreihälsigen Drehtag... sowas sieht man bei Kinderdarstellern... nie?! Das ist groß und beeindruckend. Aber auch die restlichen Darsteller machen das toll, es gibt sogar stilistisch viel zu entdecken (ohne je zu artsy zu werden) und einige Szenen sind wirklich schwer mit anzusehen. Bei einer war sogar das ganze Kino laut am japsen, stöhnen und schlucken. Kein Witz, keine Übertreibung. Aber genau so muss das. Das Thema lässt niemanden kalt, keine einfachen Antworten und Auswege zu, die Situation und dieser junge Mensch hat nicht nur eine Seite, ist unberechenbar und lässt sich einfach nicht einfangen. Das zeigt auch das poetisch und clever gelöste Ende. Benni ist eine Mischung aus Pipi Langstrumpf und Monster, aus Opfer und Wiederholungstäterin, aus verletzter Seele und tief mitfühlender, verlorener Figur. Sie entfacht in einem Mitleid, Wut, Traurigkeit, Frohsinn, Ratlosigkeit und vor allem Staunen. Alles und noch viel mehr. Zudem ist der Film ein Monument für die mutigen und bravurösen, viel zu selten gelobten und geschätzten Sozialarbeiter. Ein Film in pink, mit geballter Faust und gehobenen Kopf, am offenen Herzen, auf die Zwölf und immer auf Augenhöhe. Ein tolles Teil. Ein wuchtiges Werk. Den muss man sehen. Da gibt’s nichts, da bleibt einem die Spucke weg, das drückt einen in den Sessel. Nicht verpassen. Auf keinen Fall.
Fazit: einer der besten, mitreißendsten und emotionalsten Filme des Jahres - nicht nur aus deutschen Landen! Für mich muss man das mit großen Meisterwerken wie „The 400 Blows“, „Capernaum“ oder „Kes“ vergleichen - und jeder, der Filme kennt und liebt, weiß dadurch, an was für eine Messlatte dieses außergewöhnlich starke Drama herankommt. Harter Tobak, der sich unendlich lohnt. Tut weh und gut. Unvergesslich!