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Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) ist zurück! In ihrem 26. Fall allerdings nicht mehr als LKA-Ermittlerin in Hannover, sondern nach ihrer Strafversetzung als Kripo-Kommissarin in Göttingen. 2017 hatte sie im Rahmen erfolgloser Ermittlungen einen solchen Druck auf einen Unschuldigen ausgeübt, dass dieser sich das Leben nahm (vgl. „Tatort: Der Fall Holdt“). Neu an ihrer Seite ist Kommissarin Anaïs Schmitz (Florence Kasumba, „Black Panther“), mit der sie ein Team bilden muss – ob sie will oder nicht. Der 2018 gedrehte und am 03.02.2019 erstausgestrahlte Fall entstand nach einem Drehbuch Jan Brarens, Stefan Dähnerts und Franziska Buchs („Yoko“), welche auch Regie führte und damit innerhalb der Krimireihe debütierte.

Nach ihrer Versetzung nach Göttingen sieht sich Lindholm unter Leitung des Kripo-Chefs Gerd Liebig (Luc Feit) zusammen mit ihrer Kollegin Anaïs Schmitz mit einem ungewöhnlichen Vermisstenfall konfrontiert: In schmuddeligen Schulumkleideräumen fand eine Geburt statt, doch von Mutter und Kind fehlt – abgesehen von Blut, Käseschmiere und Plazenta – jede Spur. Die Kindsmutter Julija Petkow (Lilly Barshy, „Die verschwundene Familie“) jedoch ist bald ermittelt, die Tochter eines alleinerziehenden, gottesfürchtigen Einwanderers aus Russland (Merab Ninidze, „Ikarus“) hatte ihre Schwangerschaft verdrängt und sie allen gegenüber verheimlicht. Doch wo ist das Kind? Diese Frage genießt für Lindholm und Schmitz höchste Priorität, denn möglicherweise ist es noch am Leben. Es stellt sich jedoch auch die Frage nach dem Vater: Kommt Julias Lehrer Johannes Grischke (Steve Windolf, „Tatort: Mord Ex Machina“) infrage, in den sie verliebt war? Oder ist der mit Drogen dealende Kleinkriminelle Tim Bauer (Oskar Belton, „Die Bergretter: Winterkind“) verantwortlich, der Julia bereits einmal unter Drogen gesetzt und sie sexuell missbraucht hat? Muss man evtl. gar Julias seine Tochter zu einem engelsgleichen Wesen idealisierenden Vater in Verdacht nehmen? Julias einzige Unterstützung ist zurzeit ihr gerade erst aus dem Gefängnis entlassener Stiefbruder Nino Brehmer (Emilio Sakraya, „Bibi & Tina - Voll verhext!“), der sich eigentlich weder ihr noch ihrer Familie nähern darf. Sein Kickbox-Trainer Ralf Schmölke (Oliver Stokowski, „Der Skorpion“) hält seinen Schützling für ein großes Talent und betrachtet die Situation mit Argwohn…

Regisseurin Franziska Buch musste sich der Herausforderung stellen, sowohl dem nach Art eines Kriminaldramas konzipierten Ermittlungsfall als auch Lindholms Zurechtfinden in einem neuen Umfeld ausreichend Platz einzuräumen. Dabei trifft sie auf ein unsympathisches Arschloch von Vorgesetztem, der jedoch „flache Hierarchien“ betont und sofort zum kollegialen Duzen übergeht, gerät mit ihrer neuen Kollegin, der farbigen Schmitz, aneinander, die sie irrtümlich für eine Reinigungskraft hält, und zeigt selbst keinerlei Reue ihre Vergehen in Hannover betreffend, sondern lässt in ihrer Arroganz keinen Zweifel daran, dass sie die Entscheidung anfechten und in spätestens zwei Wochen wieder weg sein werde. In dieser Troika ist also zunächst einmal eine(r) unsympathischer als der/die andere, doch man ist zusammenzuarbeiten gezwungen, wenn auch vor lauter Stutenbissigkeit hin und wieder die Fetzen fliegen und auch schon mal die Hand ausrutscht. Auf diese Weise wird schön illustriert, wie man es sich an einem neuen Arbeitsplatz selbst unnötig schwermachen kann. In Person Anaïs Schmitz hat Lindholm indes eine neue Partnerin an der Seite, die Haare auf den Zähnen hat, keinen Spaß versteht und permanent eine latente Aggression ausstrahlt. Eigentlich gehört keine von beiden in den Polizeidienst.

Nun sind sie aber doch da und treten viel auf der Stelle, bis Zufälle wie eine Zeichnung der kleinen Schwester Julijas zur Lösung des Falls führen. Und dieser Fall geht an die Nieren. Bereits der sich vor Wehenschmerz krümmenden Julija bei ihrem Gang auf die Toilette einer Umkleide zuzusehen, bereitet beinahe körperliche Schmerzen, von ihrer anschließenden Flucht voller Blut, den Bildern des blutverschmierten Orts und dem Herausfischen der Plazenta aus der verstopften Toilette ganz zu schweigen. Dass der Verdacht im Raum steht, es könne einen Missbrauchshintergrund geben, trägt ebenso wenig zur Erheiterung bei wie die Bilder des toten Neugeborenen. Ein in der Umkleide gefundener Ring mit Teufelsfratze und ein überlebensgroß an die Wand geschmiertes Pentagramm lenken den Verdacht zudem in Richtung einer Okkult-Sekte, womit die Handlung jedoch auf eine vollkommen falsche Fährte führt. Problematisch ist dabei auch, dass man suggerierte, das Pentagramm sei im Rahmen der Niederkunft mit dem Blut der Mutter oder gar des Kinds aufgetragen worden, was jedoch im weiteren Verlauf nie mehr aufgegriffen wird.

Dies ist bereits die größte erzählerische Schwäche dieses „Tatorts“, dessen übrige Fragen nach dem Auswerfen diverser roter Heringe allesamt zufriedenstellend geklärt werden – und man sich sogar um so etwas wie ein für alle Seiten versöhnliches Ende bemüht, womit man einen möglichen Umgang mit einer solchen oder ähnlichen Situation für selbst Betroffene empfiehlt. Größtes Pfund ist das eindringliche Schauspiel Lilly Barshys, die im wahrsten Sinne des Wortes alles aus sich herausholt. Werbung für die Universitätsstadt Göttingen ist dieser Fall eher nicht, dafür mangelt es ihm an Sympathieträgern und ist er schlicht zu unangenehm. Der um mehr Diversität bemühte „Tatort“ mit seiner ersten schwarzen Ermittlerin ist für einen verkaterten Sonntagabend im Fernsehsessel oder auf dem Sofa starker Tobak, der nur unwesentlich vom Running Gag des ständig verlegten Handys Lindholms aufgelockert wird. Die (falschen) Verdächtigungen werden mitunter etwas plump integriert, streifen dabei aber immer wieder eigene Themen, die unter anderen Filmschaffenden als eigene Aufhänger eines ganzen Kriminalfalls herangezogen werden. Uhrzeiteinblendungen sollen insbesondere während der Suche nach dem Neugeborenen den Wettlauf gegen die Zeit illustrieren. Und wer bis zum Ende durchgehalten hat, hat vielleicht ein differenzierteres Bild vom zunächst immer so eigenartig anmutenden Phänomen der verdrängten oder unbemerkten Schwangerschaft, ihrer möglichen Hintergründe und der schwierigen Situation, in der sich die – häufig jungen – Mütter befinden, gewonnen.

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