Im Brighton der Jahre zwischen den Kriegen führt Pinkie eine Gaunerbande. Krumme Sachen auf dem Wettplatz, ein wenig Spaß haben, männlich auftreten, sowas halt. Kleine Geschäfte, aber kein Mord. Zumindest sehen seine Männer das so, Pinkie hat da schon ein wenig andere Ambitionen. Als der frühere Kumpel Fred nach Brighton kommt, setzt sich Pinkie auf dessen Spur und tötet ihn. Selbstmord, heißt es in der Zeitung. Doch die Sängerin Ida weiß es besser: Sie war mit Fred in den Minuten vor dessen Tod zusammen, und in ihren Augen sah der nicht wie ein lebensmüder Mann aus, sondern eher wie ein verängstigter Mann. Weil die Polizei ihr aber nicht glaubt untersucht sie den Fall selber. Und macht damit die Pferde scheu. Richtiger: Sie schreckt Pinkie auf. Über Ida stößt Pinkie dann auf die Kellnerin Rose, die beweisen könnte dass Pinkies Alibi erfunden ist, und mit der bändelt er dann an, damit er sie einerseits kontrollieren, und andererseits klar den Zeitpunkt ihres Todes bestimmen kann.
Rose ist eine kleine und nicht allzu helle Bedienung, die noch nie einen Freund hatte. Und jetzt zeigt dieser gut aussehende und selbstbewusste Mann Interesse an ihr. Sie heiraten: Rose aus Liebe, und Pinkie, weil eine Ehefrau nicht gegen ihren Mann aussagen darf. Aber Ida schnüffelt weiter, und als der Hard Boiled-Gangster Colleoni auf den Plan tritt, der die Stadt übernehmen will, und dabei mit Pinkie zusammenstößt, spitzt sich die Situation bedenklich zu.
Man könnte sich die Sache einfach machen, und Richard Attenborough als Pinkie Brown ganz einfach mit Tommy Judo vergleichen. Der war die Hauptfigur in dem 1947 entstandenen DER TODESKUSS von Henry Hathaway und die erste Rolle für Richard Widmark, der hiermit umgehend einen Riesenerfolg hatte. Pinkie Brown und Tommy Judo, die beiden könnten Brüder sein - Diejenigen, die am Ende der Straße wohnen und den ganzen Block terrorisieren. Ihr Auftreten, ihr Verhalten gegenüber Freunden oder Feinden, diese aalglatte Überheblichkeit, die nur mühsam die aufgestaute und schnell durchbrechende Aggressivität bemäntelt. Wenige Jahre vor den Krays wurden die beiden East End-Brüder im Kintopp fast vorweg genommen …
Allerdings hat Attenborough die Rolle des Pinkie Brown bereits einige Zeit früher am Theater gespielt, und zwar auf Basis eines Romans von Graham Greene, der auch das Drehbuch für den Film schrieb. Im Film wiederholte Attenborough also seine Theaterrolle, und wurde zusätzlich auch von einem echten Mobster aus Brighton, Carl Ramon, in seiner Verhaltensweise geschult. Ob Henry Hathaway das Theaterstück mit Attenborough kannte ist nicht überliefert, allerdings ist Attenborough in ebendiesem Stück bereits 1942 in Washington aufgetreten …
Genug hypothetische Trivia, BRIGHTON ROCK. Der Film. Ein Gangsterfilm, an dem zwei Dinge auffällig sind. Zum einen gibt es keine Identifikationsfigur. Alle Charaktere sind mehr oder weniger verlorene Seelen, außer Rose, und die ist zu einfach gestrickt um als klassische Heldin zu taugen, auch wenn sie natürlich genau deswegen unsere Sympathie bekommt. Pinkie ist ein kalter Krimineller, der so gerne ein großformatiger Gangster wäre, diese Klasse bei Colleoni kennenlernt – und den Schwanz einzieht. Ida ist nicht unsympathisch, aber als etwas verlebte und auf eine impertinente Art unangenehme Miss Marple, die keinen Hehl daraus macht dass ihr ein Glass Porter lieber ist als das meiste andere im Leben, wird sie immer vom Flair der Bosheit und des billigen Fusels umgeben. Ida wirkt trotz aller Mühen der Regie ordinär, und soll wohl das einfache Mädel darstellen, taugt dazu aber eher weniger. Genauso wenig wie Rose, die wie erwähnt tatsächlich ein einfaches Mädchen ist, gerade genug um als Projektion für den Zuschauer dienen zu können. Na ja, und die Nebenfiguren sind letzten Endes reine Nebenfiguren, die auch in einem realen Leben zu nichts anderem als zu Nebenfiguren taugen würden. Am ehesten kann man sich vielleicht noch mit dem Anwalt Prewitt anfreunden, der die Verzweiflung über das komplett in den Sand gesetzte Leben im Alkohol ertränkt. Oder bei dem Gangster Dallow, der zumindest das Zeug zu einem guten Klansman hätte. Opportunistisch genug ist er jedenfalls. Zumindest Ida und Prewitt wirken ein wenig wie die Figuren aus den britischen Komödien dieser Jahre. Charaktere, die dem Zuschauer einen Halt und eine Bezugsperson geben sollen, nur dass diese beiden nicht so grenzenlos optimistisch und positiv gezeichnet sind wie es üblich war, sondern dass beide auch viel Schmerz und auch Bosheit im Leib haben. Sie wirken ... echter. Realistischer …
Diese Personen und der damit wiedergegebene Kosmos geben die Leere nach dem Krieg wieder, und damit ist BRIGHTON ROCK von der Figurenzeichnung her gesehen ein klassischer Noir: Menschen, die längst jede Richtung verloren haben, und wie Flipperkugeln zwischen den Ereignissen hin und her geworfen werden, ohne sich jemals wirklich wehren zu können. Rose ist da das perfekte Beispiel: Auch als ihr klar wird dass Pinkie ein Mobster ist gibt sie ihre Liebe nicht auf. Hauptsache überhaupt ein Mann verliebt sich in sie, und wenn es das Monster von Frankenstein persönlich wäre. Egal, aber ein Mann! Der böse und bittere Schluss setzt dieser völlig verzweifelten und unnütz erscheinenden Gefühlsregung die Krone auf und überzeugt dann auch den Zuschauer unter Schaudern von Pinkies Meinung, dass Liebe überflüssig sei und nur die Sicherheit zählt. Dieser entsetzliche Schluss kam entgegen Graham Greenes im Drehbuch vorgesehenem Ende zustande, taugt aber meines Erachtens eben als schauderhafter und zynischer Kommentar zum Zustand der Liebe auf der Welt viel besser als der ursprünglich gedachte Schluss. Allerdings spricht auch nichts dagegen, genau diese Ansicht als zynisch zu bewerten …
Das andere Merkmal von BRIGHTON ROCK ist der Druck, der in so vielen Szenen aufgebaut wird, und sich in Momenten der Gewalt immer wieder entlädt. Nicht wie in den heutigen Filmen, wo permanent geschossen wird und etwas explodiert. Nein, der Druck entsteht aus der Situation heraus. Aus dem Problem, dass der Mord an Fred einen Zeugen haben könnte, und allein dieses könnte reicht aus, um allen Beteiligten Schweißperlen auf die Stirn zu treiben, und sie zu Handlungen zu zwingen, die eigentlich jenseits ihrer eigenen Moralvorstellungen liegen. Das beginnt schon mit einer treibenden Verfolgungsjagd quer durch das sommerliche Brighton, gefilmt mit versteckter Kamera und inmitten des echten Straßenlebens der Stadt. Überall sind Touristen, Menschenmassen wohin man schaut, und Fred versucht verzweifelt am Leben zu bleiben indem er Gesellschaft sucht. Inmitten der anonymen Menschenmenge ist nur eine Partnerin eine Lebensversicherung, denn die wäre eine Zeugin und hält damit die Gangster von ihrem Vorhaben ab. Eine atemlose und erstklassig in Szene gesetzte Menschenjagd, die das Tempo des ganzen Films vorgibt.
Denn auch nach dieser Jagd bleibt das Tempo hoch, zieht die Spannung fast permanent an. Alle Personen haben in jedem Augenblick eine Aufgabe, es entsteht keinerlei Zeit zum Nachdenken (was in Anbetracht des ein oder anderen Lochs im Drehbuch auch ganz gut ist). Pinkie versucht sein Revier, seine Position, sein Leben zu retten. Die kleine Rose versucht ihren Glauben an die Liebe und Pinkie zu retten, und sie ist mitnichten eine Insel im Sturm, sondern bringt unwissentlich das Fass erst zum Überlaufen. Ida ist eine etwas verlebte Hobbydetektivin und versucht unter Hochdruck einen (eingebildeten?) Kriminalfall zu lösen, und Pinkies Männer versuchen ihren Job zu machen, wobei es in einer Szene zu einer schlimmen Eskalation kommt, als Pinkie erfahren muss, dass ihn eigentlich keiner so richtig ernst nimmt. Alle seine Leute sind ein gutes Stückchen älter als er und haben ihre Erfahrungen gemacht, und dass Pinkie jetzt eine Frau hat veranlasst seinen Gefolgsmann Cubitt zu der Aussage „Jetzt wirst Du endlich zum Mann“. Keine wirklich gute Idee, so etwas zu seinem Boss zu sagen …
Was auch zu diesem Tempo beiträgt ist, dass so viele Szenen realistisch wirken. Szenen mit kleinen Details, die den Film nicht voranbringen (was er auch gar nicht nötig hätte), ihm aber sehr viel Leben geben: Natürlich die Straßenszenen, aber auch der Mann in der Geisterbahn, der seine Freundin überreden möchte einzusteigen und mit ihr einen stummen Dialog hält. Der Hotelboy der vorübergeht, wenn Pinkie und Colleoni sich unterhalten wollen, und der sie aufgrund seiner Ausrufe zum Schweigen bringt. Ida, die im Autopsiebericht alle Krankheiten von Fred vorliest – Vollkommen unerheblich für den Film, aber gleichzeitig ungemein lebendig und Ida perfekt charakterisierend. Momente die aus dem Leben gegriffen sind, und echten Realismus in die Gangsterpistole einfließen lassen
Auf der anderen Seite dann aber auch wieder Momente der Ruhe, in denen fast greifbare Spannung aufgebaut wird. Pinkie, dessen Hut immer schräg sitzt, genauso wie bei den großen Gangstergestalten in Übersee, zu denen er so gerne gezählt werden möchte. Doch Pinkie spürt diesen Druck ebenfalls, und er spielt dann gerne mit einem Bindfaden. So wie Humphrey Bogart in DIE CAINE WAR IHR SCHICKSSAL mit ein paar Stahlkugeln spielen wird. Und damit wird die Grenze, an der er psychisch wandelt, klar festlegt: Schaut her Leute, noch ein Schritt und ich explodiere …
Eine britische Variante von DER TODESKUSS? Etwas unterkühlter, nicht so voller Emotionen und nicht so heißblütig, dafür aber deutlich düsterer und mit einem böseren Schluss gesegnet. Klassisches und spannendes Gangsterkino, das mit den großen Vorbildern aus Amerika ganz locker mithalten kann, ja dieses in Punkto Realismus sogar deutlich übertrifft.