„Hier passiert eigentlich nie ‘was Interessantes...“
Nach dem Erfolg der ersten Staffel der britischen Sexualdramödien-/Aufklärungsserie „Sex Education“ aus dem Jahre 2019 verlängerte der US-Video-on-Demand- bzw. Streaming-Anbieter Netflix rasch um eine weitere Staffel, die am 17. Januar 2020 veröffentlicht wurde. Kate Herron schied als Regisseurin aus; Ben Taylor standen mit Alice Seabright und Sophie Goodhart, die bereits Drehbücher zur ersten Staffel verfasst hatte, zwei neue Regisseurinnen zur Seite. Die Länge der acht neuen Episoden blieb weitestgehend unverändert bei jeweils ungefähr einer knappen Stunde. Zu Konzept und narrativem Rahmen dieser Serie und deren Umsetzung habe ich bereits in meiner Kritik der ersten Staffel einiges geschrieben, weshalb ich an dieser Stelle näher auf die Inhalte der Episoden der zweiten Staffel eingehe:
„Ist das 'ne Scheißshow...“
Der pubertierende Otis (Asa Butterfield, „Der Junge im gestreiften Pyjama“) ist dauergeil, leidet unter Spontanerektionen und betreibt daher permanente Selbstbefriedigung, was im Prolog in eine peinliche Situation mündet – ein etwas plumper Lacher zum Auftakt, jedoch passend veredelt durch eine witzige Chorversion von „I Touch Myself“ der Divinyls. Otis‘ Mutter, die Sexualtherapeutin Jean Milburn (Gillian Anderson, „Akte X“), hat natürlich für alles Verständnis. Dabei hat ihr Sohn doch eigentlich Ola (Patricia Allison, „Les Misérables“) zur Freundin, allerdings noch keinen Sex mit ihr – denn ausgerechnet bei ihr bekommt er Erektionsprobleme. In einer weiteren hochnotpeinlicher Situation erwischen die beiden Olas Vater Jakob (Mikael Persbrandt, „Kommissar Beck“) und Otis' Mutter beim Sex miteinander und erfahren so vom deren Beziehung. Ferner sorgt ein Chlamydienausbruch an der Schule für allgemeine Hysterie und sucht Trailerpark-Bewohnerin Maeves (Emma Mackay, „Badger Lane“) suchtkranke Mutter Erin (Anne-Marie Duff, „Shameless“) wieder den Kontakt zu ihrer Tochter.
Der Staffelauftakt scheint veranschaulichen zu wollen, dass man sich keineswegs davor scheut, ans Eingemachte zu gehen, ja, dass einem nichts Menschliches fremd ist, und klappert mit großer Scham behaftete Stationen wie bei der Selbstbefriedigung erwischt zu werden, seine Eltern beim Sex zu überraschen und Geschlechtskrankheiten ab. Eine Krise zwischen Otis und Ola zeichnet sich bereits ab, während sich Maeve als Vertreterin der Unterschicht mit ihrer Mutter, die nur in ungenügendem Maße für sie da sein konnte, und damit vergleichsweise unpubertären, gewichtigen Herausforderungen konfrontiert sieht.
„Otis, das ist eine Vagina – und kein Examen!“
In der zweiten Episode hat Sexualkundelehrer Mr. Hendricks (Jim Howick, „Hellboy“) Sex mit seiner Kollegin Mrs. Sands (Rakhee Thakrar, „EastEnders“), die Dirty Talk will, den er – Typ klassischer, eher gemütlicher Pädagoge – ihr aber nicht bieten kann. Jeans Auftritt als Sexualtherapeutin vor versammelter Schülerschaft gerät zur Farce, der neue, sehr attraktive Schüler Rahim (Sami Outalbali, „Lola und das Meer“) freundet sich mit dem homosexuellen Eric (Ncuti Gatwa, „Stonemouth – Stadt ohne Gewissen“) an, Maeve besteht ihre Eignungsprüfung auf Umwegen , wodurch sie wieder die Schule besuchen darf, und die nerdige Fantasy-Comic-Zeichnerin Lily (Tanya Reynolds, „Delicious“) trägt wieder unfassbare Outfits. Der Haupthandlungsstrang dieser Episode handelt jedoch davon, dass Ola vom unerfahrenen Otis gefingert will, woraufhin sich dieser informiert und es daraufhin zu sehr wie im Ratgeber angelesen vollzieht. Ola spielt ihm einen Orgasmus vor, um ihn nicht zu verletzen, doch er fühlt sich wie ein Held. Ein weiterer Handlungsstrang zeigt den tumben Mobber und Schläger Adam Groff (Connor Swindells, „Keepers – Die Leuchtturmwärter“), der in der letzten Folge der vorausgegangenen Staffel seine Homosexualität entdeckt hatte, auf der Militärschule, auf die ihn sein Vater, Schulrektor Michael Groff (Alistair Petrie, „Rogue One: A Star Wars Story“) wegen seiner schlechten schulischen Leistungen geschickt hat. Dort wird ihm Gras untergeschoben, weshalb er auch von dieser Schule fliegt.
Mit dem homosexuellen Schönling Rahim wird eine interessante neue Figur eingeführt, die eine derart coole Aura umgibt, dass auch die arrogante Schickimicki-Clique der Schule an Rahims Freundschaft interessiert ist – was er jedoch nicht erwidert. Komödiantisch absurd ist der Umstand, dass Mr. Hendricks Rat bei Nachwuchs-Sexualtherapeut Otis sucht, für den aber bereits guter Rat in Sachen Fingern teuer ist. Dass Maeve noch nicht über Otis hinweg ist, ist der Startschuss für eine episoden- und staffelübergreifende verhinderte Romanze, die die Gefühlswelt beider Figuren dominiert. Als Moral dieser Episode lässt sich destillieren: Sagt euch gegenseitig offen, worauf ihr steht.
Episode 3 zeigt im Prolog die indischstämmige Schülerin Olivia (Simone Ashley, „Pokémon Meisterdetektiv Pikachu“), die ihrem Freund beim Sex stets ein Kissen auf den Kopf zu drücken pflegt, was zu einem Konflikt führt. Und Eric datet Rahim! Jean ist nun eine Art Vertrauenslehrerin für Fragen rund um Sexualität an Otis‘ Schule und steht dort für Gespräche zur Verfügung. Die naive Blondine Aimee (Aimee Lou Wood, „Die wundersame Welt des Louis Wain“) wird im Omnibus von einem fremden Sittenstrolch angewichst, was schwerwiegende Folgen für ihre Psyche hat. Sie kann sich nicht mehr überwinden, in einem Bus mitzufahren, und Maeve muss sie regelrecht zur Polizei zerren, damit sie den Übergriff überhaupt zur Anzeige bringt. Das aufgrund einer Verletzung pausieren müssende Sport-Ass Jackson (Kedar Williams-Stirling, „Wolfblood – Verwandlung bei Vollmond“) beginnt, sich für Schauspiel zu interessieren, und wirkt bei den Proben zur „Romeo und Julia“-Schulaufführung mit. Adam jobbt nun im Lebensmittelgeschäft von Rahims Onkel und lernt dort Ola als ebenfalls jobbende Kollegin kennen. Erin möchte in Maeves Wohnwagen miteinziehen, weil sie von ihrem Partner verlassen wurde – was Maeve nicht gerade zu Jubelsprüngen animiert. Ein Familienabend bei Otis zu Hause endet im Eklat.
Neben Maeves turbulenter Familiengeschichte dominieren die Probleme, eine funktionale Patchwork-Familie zu gründen, und der sexuelle Übergriff auf Aimee diese Episode, die für die möglichen Folgen derartiger Attacken sensibilisiert und für einen verantwortungsbewussten Umgang damit wirbt – zunächst einmal in Form einer Anzeige bei der Polizei. Der dramatische Anteil überwiegt, zu lachen gibt es hier eher wenig. Und es beginnt aufzufallen, wie „angezogen“ die Sexszenen in dieser Staffel sind; es wird fröhlich in die meiste nackte Haut verdeckender Kleidung gevögelt. Die Intention dahinter ist klar, Voyeurinnen und Voyeure will die Serie nicht ansprechen. Dass dies zu Lasten des Realismus geht, ist die Kehrseite der Medaille.
Maureen Groff (Samantha Spiro, „Game of Thrones“), Ehefrau des Rektors, eröffnet Jean, seit sechs Jahren von ihrem Mann nicht mehr angefasst worden zu sein. Ola zeigt sich bereit für Sex mit Otis, er ist’s eher weniger und macht ein Riesending daraus. Maeve gesteht Otis endlich ihre Gefühle, was ihn verwirrt, insbesondere kurz vorm geplanten ersten Mal mit Ola. Beim Vorspiel ist er total gestresst und als auch noch eine SMS von Maeve eingeht, bricht er ab. Jean stürzt derweil beinahe mit ihrem Ex-Mann Remi (James Purefoy, „Ritter aus Leidenschaft“) ab. Eric und Adam kommen sich näher und küssen sich wieder, Otis hingegen bekommt von Ola die Pistole auf die Brust gesetzt, steht am Ende der vierten Episode zwischen zwei Frauen – und Eric zwischen zwei Männern…
Die Gefühlskonfusionen zwischen Maeve und Otis entwickeln sich zu einem filmisch wirklich gut umgesetzten Drama, während diese Entwicklung beim Rezensenten Entsetzen hervorruft: Schließlich ist Ola total cool! Diese Emotionalisierung der Rezeption spricht natürlich für und nicht gegen die Serie. Ebenfalls gekonnt eingearbeitet wird, wie Maeve es besser zu machen versucht als ihre Mutter, was Zuschauerinnen (und auch Zuschauern), die sich eventuell in ähnlichen familiären Situationen befinden, eine wichtige Vorbildfunktion sein kann. Gegen diese schwereren Themen verblasst ein wenig die Sexlehre dieser Episode: Hängt euer erstes Mal nicht zu hoch auf und plant es nicht bis ins Detail durch, sonst droht die Enttäuschung vorprogrammiert zu sein – und meist kommt es ohnehin anders als gedacht.
In Episode 5 fährt Otis‘ Vater Remi mit Otis und Eric zum Wandern in den Wald. Jackson soll seine ihm Nachhilfe gebende Mitschülerin, die korpulente Viv (Chinenye Ezeudu, „Ich schweige für dich“), mit ihrem Schwarm Dex (Lino Facioli, „Game of Thrones“) verkuppeln. Zwischen Jean und Jakob kriselt’s und Ola, die sich eigentlich für heterosexuell hielt, träumt amourös von Lily. Remi bricht überraschend zusammen, als er erfährt, dass seine Ex-Frau neu liiert ist, und Maureen trennt sich von Michael. Damit nicht genug: Ola macht mit Otis Schluss – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem er sich für sie entschieden und den Kontakt zu Maeve abgebrochen hat. Und dann ist da noch Eric, der sich für Rahim entscheidet, weil Adam nicht zu seiner Homosexualität und somit auch nicht zu Eric steht.
Die Karten werden hier also komplett neu gemischt. Otis glaubt, eine richtige Entscheidung getroffen zu haben, steht aber plötzlich allein da. Eigentlicher Kern dieser Episode ist indes Adam Groff. Sein Love Interest Eric wurde bereits in der ersten Staffel als lebenslustiger, selbstbewusster, ganz offen mit seiner Homosexualität umgehender Charakter eingeführt, von dem Adam das genaue Gegenteil ist: Dieser fühlt sich in seiner Männlichkeit, die er zuvor überzubetonen pflegte, verunsichert und traut sich nicht, zu seiner sexuellen Ausrichtung zu stehen. Dass sich nun auch noch seine Eltern trennen, macht das Leben für ihn nicht leichter. Vom verachtenswerten Bully Boy avanciert er immer mehr zum Sympathieträger bzw. zur ein gutes Stück weit bemitleidenswerten Figur, die zugleich beweist, dass die Autorinnen und Autoren nicht den Sinn für die Realität verloren haben, indem sie etwa eine insofern heile Welt etablierten, in der die sexuelle Ausrichtung keinerlei Rolle mehr spielen würden. Stattdessen steht Adam stellvertretend für den Typ verklemmter, verunsicherter Halbstarker, der innere Konflikte gegen von seinem Vater jahrelang indoktrinierte patriarchal-konservative Denkmuster ausfechten und erst einmal zu sich selbst finden muss. Für Zuschauer in ähnlichen Situationen dürfte es daher besonders spannend und im Idealfall erkenntnisreich sein, Adams weitere Entwicklung zu verfolgen. Als vielleicht ein Nebenhandlungsstrang zu viel erweist sich in dieser ansonsten sehr starken Episode Vivs Interesse am unsympathischen Dex.
Die sechste Episode eröffnet mit einem Prolog um zwei Schwule, von denen einer Angst davor bekommt, tatsächlich anal penetriert zu werden, und sich der Situation mit einem Trick entzieht. Im weiteren Verlauf wird er sich an Otis wenden, welcher wiederum Rahim dazu befragt. Lily scheint mit Olas Zuneigung nichts anfangen zu können und geht ihr aus dem Weg. Maeve soll wieder bei ihrer ehemaligen Quizgruppe mitmachen, um dort einen krankheitsbedingten Ausfall zu kompensieren. Sie lässt sich überreden – und ihr Team gewinnt prompt einen Wettbewerb! Jacksons Handverletzung ist so weit abgeheilt, dass er wieder am Schwimmtraining teilnehmen könnte, was seine Mutter zu forcieren versucht. Dies würde sich terminlich jedoch mit seinem Schauspielprojekt überschneiden. Er erträgt den Erwartungsdruck anderer, insbesondere seiner Mutter, in Bezug aufs Schwimmen nicht mehr; es stellt sich gar heraus, dass er seine Verletzung aus diesem Grunde selbst herbeigeführt hatte. Maureen emanzipiert sich mit Jeans Hilfe immer mehr von ihrem Mann, der aber leider an Jeans Notizen über seine Frau gelangt… Zwischen Maeve und ihrer Mutter läuft‘s mittlerweile besser, zudem scheint Maeve nach Otis‘ Entscheidung gegen sie geistig wieder offener für andere Menschen zu sein. Aus anfänglicher Abneigung gegen den im Rollstuhl sitzenden jungen Mann Isaac (George Robinson, „Dalgliesh“), der im Wohnwagen gegenüber wohnt, entwickeln sich zarte Bande der Zuneigung. Kernstück dieser Episode jedoch: Otis schmeißt eine Party bei sich zu Hause, zu der viel mehr Gäste erscheinen als eingeladen wurden. Rotzevoll beleidigt Otis sowohl Ola als auch Maeve und lässt sich völlig gehen. Auf dieser Party werden diverse Entscheidungen getroffen und Beziehungen ändern sich…
Eine weitere überaus gelungene Episode, die neben der Verhandlung homosexueller Themen überzogene Erwartungshaltungen von Eltern an ihren Nachwuchs und daraus resultierende mögliche negative Folgen aufgreift, die aus prekären Verhältnissen stammende und nach wie vor in ihnen lebende Maeve als gebildete junge Frau präsentiert (und damit zeigt, dass die soziale Herkunft mitnichten etwas über die Intelligenz aussagt) und Rollstuhlfahrern oder anderweitig körperlich eingeschränkten Menschen die leise Hoffnung vermittelt, vielleicht selbst einmal zum Schwarm von jemandem wie Maeve werden zu können. Otis‘ Party wiederum dürfte relativ nah an der Realität berüchtigter Hauspartys sein, inklusive Komplettabsturz des Gastgebers und anschließender Neudefinition zwischenmenschlicher Beziehungen. Nichtsdestotrotz geriet hier einiges recht plakativ und überzeichnet, was jedoch zum komödiantischen Stil der Serie passt.
Wie im echten Leben fällt auch der Auftakt der siebten Episode aus: Otis hatte im Vollsuff Sex mit Ruby (Mimi Keene, „EastEnders“) aus der Arroganzclique, an den er sich aber nicht erinnern kann. Leider ist sie sich nicht sicher, ob ein Kondom verwendet wurde, weshalb es die „Pille danach“ zu besorgen gilt. An seiner Schule gehen nun auch noch die die therapeutischen Notizen Jeans um. Es herrscht eine allgemeine Katastrophenstimmung und es kommt zu einem weiteren Eklat, als Jean erfährt, dass Otis Sexualberatung gegen Geld erteilt. Das Nachsitzen der eigentlich so unterschiedlichen Schülerinnen Maeve, Olivia, Aimee, Ola, Lily und Viv wird als zeitgemäße Hommage an den Kultfilm „Breakfast Club“ inszeniert, in deren Zuge sie als traurige Gemeinsamkeit feststellen, bereits belästigt worden zu sein, i.d.R. sexuell. Zwischen Eric und Rahim kommt es zu einem religiösen Disput, es gibt aber auch ein Happy End: Ola und Lily finden doch noch zueinander.
Diese Katerepisode der Staffel vermittelt zum einen, dass es die „Pille danach“ gibt, die in solchen und ähnlichen Situationen eine wertvolle Hilfe sein kann. Zum anderen sensibilisiert sie für den verantwortungsbewussten Umgang mit pikanten Aufzeichnungen. Auf der komödiantischen Ebene punktet er mit der absurd erscheinenden Liaison zwischen Ruby und Otis, auf der dramatischen – und wichtigeren – mit dem Quasi-Aufruf an die Frauenwelt, miteinander zu kommunizieren, auch negative Erfahrungen untereinander auszutauschen und sich zu vernetzen, um sich gegenseitig Halt zu geben und mit vereinten Kräften gegen sexistische und gewalttätige Übergriffe vorgehen zu können, die verbreiteter sind als vielfach angenommen. Niemand muss als Opfer allein bleiben. Manchmal hilft es auch, sich gemeinsam abzureagieren, wie es die Mädels hier auf dem Schrottplatz tun – denn auch das gehört dazu.
Das Staffelfinale treibt einige Konflikte auf die Spitze: Jean ist sauer auf Otis, weniger wegen der Party und der verwüsteten Wohnung als vielmehr deshalb, weil er Geld für seine Laienberatungen annahm – doch Otis bleibt uneinsichtig. Jakob beendet seine Beziehung zu Jean, nachdem diese zunehmend ein Problem mit seiner Anwesenheit entwickelt hatte – seither leidet sie jedoch. Isaac und sein Bruder schnüffeln Erin nach, um herauszufinden, ob sie wieder Drogen nimmt. Dem scheint so zu sein und ausgerechnet, während Maeve im Quizfinale sitzt, senden sie ihr den Beweis. Otis stellt seinen Vater zur Rede und möchte wissen, weshalb er seine Mutter und ihn seinerzeit hat sitzenlassen. Und last but not least steht die „Romeo und Julia”-Schulaufführung an, die unter Lilys Regie zu einer sexuell aufgeladenen campy Farce gerät, die zudem ungeplant von den Groffs torpediert wird.
Diese Aufführung ist der komödiantische Höhepunkt nicht nur der Episode, sondern wahrscheinlich der ganzen Staffel, der zugleich eine Lanze für die freie, kreative und zeitgenössische Bearbeitung klassischer Stoffe bricht. Manch dramatische Zuspitzungen fällt hingegen – geradezu kontrastierend – relativ derb aus und natürlich wartet das Finale mit dem einen oder anderen Cliffhanger auf.
Während ich das Gefühl hatte, dass sich die Serie während der ersten Staffel erst noch finden musste, holt mich diese zweite Staffel stärker ab. Die verhandelten Themen erscheinen mir vielfältiger und anspruchsvoller, das Ensemble wurde stark erweitert. „Sex Education“ ist hochpädagogisch, ohne auch nur eine Sekunde so zu wirken, transportiert kluge Aussagen und regt nicht zuletzt zur Selbstreflexion an, während die Kreuzung aus Drama und Komödie meist funktioniert. Die zig parallel zueinander verlaufenden Handlungsstränge, die sich immer mal wieder kreuzen, verleihen der Serie starke Soap-Elemente, die man aufgrund der überaus ausdrucksstarken Hauptrollen und des erfrischend spielfreudigen Ensembles gern verzeiht, vielleicht gar regelrecht genießt, sobald einem die Figuren ans Herz gewachsen sind. Diese verkörpern zahlreiche positive Rollenbilder, während sie zu einem relativ großen Anteil dem angehören, was man gemeinhin als Minderheiten bezeichnet: Sie sind schwarz, haben offensichtlich einen Migrationshintergrund, sind nicht heterosexuell, entstammen dem Prekariat, sind übergewichtig, behindert oder was auch immer – werden dabei in dieser Serie aber nicht exotisiert und nicht jede Abweichung vom weißen Mainstream wird problematisiert. Liebe und Sex zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe ist hier etwas Alltägliches und Selbstverständliches.
„Sex Education“ geht mit gutem Beispiel dafür voran, wie eine solche Diversität unaufdringlich und erfolgreich filmisch umgesetzt werden kann. Die Aussage dahinter: Jeder hat seine positiven und negativen Eigenheiten sowie seine Makel und Probleme, niemand ist deshalb etwas Besseres oder Schlechteres, schon gar nicht aufgrund von Äußerlichkeiten wie Hautfarbe oder Sexualität. Dennoch, dieser Kritikpunkt sei gestattet, geht dieses Unterfangen damit einher, dass sich die Schülerinnen und Schüler der (wohlweislich) fiktionalen Kleinstadt zwar mit sexueller Belästigung sowie zahlreichen zwischenmenschlichen und persönlichen Problemen auseinandersetzen müssen, nicht aber beispielsweise mit Rassismus, was das Serien-Setting dann doch zumindest zu einer heileren Welt als die Realität, zu einer idealisierten Variante macht. Eine Welt voller Klamottenfetischist(inn)en zudem, die beim Sex ihre Kleidung anlassen – eine offensichtliche Prüderie, die zwar wirkungsvoll verhindert, dass „Sex Education“ aus den falschen Motiven heraus geguckt wird, die vermittelte Sexpositivität aber ein Stück weit konterkariert. Ich erhöhe dennoch (von 7/10 für die erste Staffel) auf 8 von 10 Beratungsgesprächen auf dem Schulklo und freue mich auf die nächste Staffel.