„Amazon ist die Firma, der die Kunden in aller Welt am meisten vertrauen.“
Der britische Dokumentarfilmer David Carr-Brown nimmt in seinem Dokumentarfilm „Der unaufhaltsame Aufstieg von Amazon“ aus dem Jahre 2018, einer deutsch-französisch-niederländischen Koproduktion fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen, rund 90 Minuten lang den Amazon-Konzern ins Visier: Jeff Bezos Unternehmen hat einen schwindelerregenden Börsenwert von einer Billion US-Dollar erreicht und ist im Bereich digitaler Wirtschaft marktbeherrschend. Bezos gilt als reichster Mann der Welt, Amazon als der weltweit größte Online-Händler – wobei der Versandhandel nur eines von mehreren Standbeinen des immer weiter expandierenden Unternehmens ist. Seinen Kundinnen und Kunden gilt Amazon als überaus serviceorientiert, doch Amazon ist längst auch zu einer riesigen Datenkrake geworden, die so viele Informationen wie möglich über ihre Kundinnen und Kunden sammelt. Und während Wettbewerbshüter die Macht Amazons einzudämmen versuchen und die Kritik am Erfolgsmodell Amazon mit seiner Ausnutzung von Steuerschlupflöchern und gesellschaftlicher Ausbeutung nicht verstummt, ist Amazon längst zum global Player im Cloud-Speicher- und Hosting-Segment – den Handelsstraßen digitaler Güter – avanciert und entwickelt sein Chef Bezos Raumfahrtpläne. Carr-Brown versucht sich an einer kritischen Bestandsaufnahme.
„Amazon drängt dem Einzelhandel, dem Versandgeschäft und der Arbeitswelt seine Regeln auf, verändert unsere Gesellschaft von Grund auf – und das völlig unkontrolliert.“
Der Filmemacher begleitet zunächst den unterbezahlten „Amazon Flex“-Paketboten Jamal, der mit seinem Privatwagen Amazon-Sendungen ausliefert. Je mehr solcher „Jobs“ er bekommt, desto mehr verdient er. Vermittelt werden ihm die Aufträge über eine Smartphone-App, die er im Sekundentakt aktualisiert, um sich gegen die Konkurrenz, die virtuell mit ihm um die Aufträge buhlt, durchzusetzen. Ein Sprecher aus dem Off kommentiert die Bilder, die einen ersten Eindruck von den prekären Arbeitsbedingungen vermitteln. Auszüge aus Reden des Amazon-Gründers gehen über in eine kritische Berichterstattung zur Vormachtstellung Amazons. Carr-Brown rollt die Unternehmenshistorie von Grund auf, von den Anfängen als kleiner Garagen-Buchhandel, auf, und lässt (ehemalige) Weggefährt(inn)en, Kritiker(innen) und Wirtschaftsanalyst(inn)en sowie diverse weitere Expert(inn)en zu Wort kommen.
„Amazons Motor ist ständiges Wachstum, ein Ende ist nicht vorgesehen.“
Als Ende der 1990er Investoren Amazon zum Milliardenunternehmen machten, verfolgte Bezos konsequent seine Strategie des sofortigen Reinvestments von Profiten, was zu einem der Stützpfeiler der Unternehmensphilosophie wurde und half, Amazon aggressiv am Markt zu behaupten. Amazon hat laut diesem Film die Geldzirkulation gestoppt bzw. durchbrochen. Die Monopolbestrebungen Amazons werden genannt und skizziert, wie die Globalisierung Amazon zugutekam. Carr-Brown übt Kritik am Neoliberalismus, wofür er u.a. auf alte Aufnahmen aus dem Vereinigten Königreich und von dessen ehemaligem Premierminister John Major zurückgreift, zeigt Amazons moderne Lohnsklaverei auf, übt Kritik an den Arbeitsbedingungen, lässt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ihnen berichten und stellt Vergleiche zum Film „Die Faust im Nacken“ sowie, etwas unglücklich, mit dem „Rattenfänger von Hameln“ an. Doch auf positive Stimmen zum „Amazon Flex“-Konzept werden berücksichtigt. Internet-Pioniere, mit alten Aufnahmen von Mitte der 1980er eingeführt, erzählen von den Utopien und dem Idealismus der Internet-Anfangszeit, schlagen aber heute die Hände überm Kopf darüber zusammen, was aus dem Netz geworden ist.
„Amazon schafft keinen Reichtum, Amazon nimmt ihn weg!“
In einem Exkurs porträtiert Carr-Brown die marktradikalen Libertären und stellt die Herausgeberin der libertären US-Monatszeitschrift „Reason“, Katherine Mangu-Ward, vor, die unfassbar naiv und einseitig ihren Helden Jeff Bezos in den höchsten Tönen lobt. Amazon ist ihr Lieblingshändler, u.a. weil es ihm gelungen sei, den Kundinnen und Kunden zu einer Macht zu verhelfen, die zuvor Hersteller(innen) und Einzelhändler(innen) innegehabt hätten – was extrem kurzgedacht ist. Ein Amazon-Marketplace-Händler kommt zu Wort und liefert schöne Einblicke in die Arbeit eines Händlers antiquarischer Bücher, auch ein Matratzenhersteller äußert sich positiv. Das „Amazon Prime“-Modell wird erklärt und Amazons Web-Services werden genannt. Wie sich ganze Städte auf Amazon-Ausschreibungen hin bewerben, stimmt jedoch nachdenklich, insbesondere, wenn man im Anschluss auf die parasitäre Vorgehensweise des Konzerns durch das Ausnutzen von Steuerschlupflöchern gestoßen wird. Medienexperte Douglas Rushkoff scheut dabei auch keine Vergleiche mit dem Kolonialismus vergangener Zeiten.
Carr-Brown stellt darüber hinaus die Unterschiede zwischen den USA und Europa heraus und kritisiert schließlich den Thatcherismus des Vereinigten Königreichs mit seinen fatalen Folgen, schweift damit aber relativ weit ab. Erst gegen Ende geht der Film auf weitere aktuelle Konzernfelder ein und skizziert Amazons Raumfahrtpläne. Dabei wird es dem Phänomen Amazon eigentlich längst nicht mehr gerecht, sich in der Auseinandersetzung mit ihm so sehr auf den Versandhandel physikalischer Produkte zu versteifen – andererseits ist dies vermutlich der einfachste und niedrigstschwellige Einstieg in die Thematik, auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer. Unterm Strich will der mit vielen alten Interviewausschnitten Jeff Bezos untermauerte „Der unaufhaltsame Aufstieg von Amazon“ ganz schön viel auf einmal, genau genommen etwas zu viel, denn besonders in der zweiten Hälfte scheint Carr-Brown sich bisweilen zu verzetteln und sein Film den roten Faden zu verlieren. Exkurse zum Thatcherismus und zu den US-Libertären sind gewiss nicht uninteressant, doch das marktextremistische Gequatsche ist schnell enervierend und unerträglich. Auf den Kampf mit der deutschen Gewerkschaft Verdi um einen Tarifvertrag hingegen geht Carr-Brown leider mit keiner Silbe ein. Und dass ausgerechnet die chinesische Konkurrenz Amazon das Wasser abgraben will, stimmt nun wahrlich nicht sondern hoffnungsvoll.
Hängen bleibt: Mit seiner aggressiven Wachstumsstrategie ist es Amazon gelungen, sich im Wettbewerb durchzusetzen und sich zum marktbestimmenden Oligopolisten mit Monopolbestrebungen zu entwickeln. Bezos hat ein Monster geschaffen, das nach und nach alle zu verschlingen und der Welt seine Spielregeln aufzuzwingen versucht. Dabei folgt Bezos bzw. sein Konzern im Prinzip schlicht den Regeln des Kapitalismus, dessen Versagen in Hinblick aufs Allgemeinwohl er zugleich aufzeigt: Ein funktionierendes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem dürfte eine derartige Entwicklung, im Zuge derer nicht mehr die Allgemeinheit von Unternehmensgewinnen durch Bruttosozialproduktsteigerungen und Steuerzahlungen mitprofitiert, sondern durch unlauteren Wettbewerb, Steuervermeidungsstrategien und Ausbeutung unterer Angestellter bzw. Subunternehmer/Dienstleister Gewinne privatisiert, die negativen Folgen dieser Entwicklung aber vergesellschaftlicht werden und somit von allen zu tragen sind bzw. sein werden, nie zulassen. Diese Quintessenz hätte gern deutlicher hervorgehoben werden können.