„What is Brazil?“
Michael Palin meint in der gleichnamigen Dokumentation zur Filmentstehung: „Ein Wikingermusical.“ Das diese Einschätzung nicht ohne ein Augenzwinkern abgegeben wurde, sollte jedem klar sein, doch gleichzeitig zeigt sie auch, dass auf obige Frage nicht jeder eine Antwort parat hat. Die Meinung von Drehbuchautor Charles McKeown, „Brazil“ zu sehen, sei „als ob man Terry Gilliams Schädeldecke öffnet und in seinen Kopf hineinsieht“, trifft den Nagel schon eher auf den Kopf. Den kühnen, unkonventionellen Inszenierungsstil des Ex-Monty-Python aus den späteren „König der Fischer“, „Twelve Monkeys“ oder „Fear and Loathing in Las Vegas“ findet man auch in seinem „Brazil“.
Vor Ansicht des Films sollte man zunächst jedes Schubladendenken ablegen, denn kategorisieren lässt sich diese Mischung aus Groteske, Dystopie, Drama, Satire und Fantasy-Film ohnehin zu keinem Zeitpunkt. Fasst man den Inhalt grob zusammen, geht es um den Angestellten Sam Lowry (großartig: Jonathan Pryce), der in einer nahen Zukunft ins Visier der Behörden gerät, da er versucht, die Unterdrückungsmaßnahmen eines Überwachungsstaates zu umgehen. Hilfe bekommt er dabei von einem schrulligen Monteur und seiner Traumfrau (im wahrsten Sinne des Wortes).
Die Kulissen, in die Gilliam das Ganze verpackt, erinnern nicht ungefähr an Orwells Zukunftsutopie „1984“: Die Gebäude sind düster und grau und stets von Rauchschwaden umzogen, außerhalb der Großstädte sehen die Landschaften ebenso trostlos aus. Inmitten dieser Szenerie ist Sam Lowry ein x-beliebiger Angestellter einer staatlichen Einrichtung, der sich gerne in Tagträume flüchtet, in denen er in malerischen Landschaften als Mischung aus Engel und Ritter mit seiner (noch) unbekannten Traumfrau umherfliegt. Doch als Lowry durch eine Reihe dummer Zufälle in einen fatalen Fehler des Informationsministeriums verwickelt wird, werden auch seine Träume zunehmend düsterer: Er muss plötzlich in dunklen Gassen gegen hässliche Gnome und monstergroße Ritter (erinnert sehr an die Traumsequenzen aus „König der Fischer“) kämpfen. Doch gerade das, und natürlich die Suche nach dieser schönen Frau aus seinen Phantasien, lässt ihn Mut schöpfen, aus dem totalitären Überwachungssystem auszubrechen.
Nur deshalb nimmt er auch die Beförderung ins Informationswiederbeschaffungsministerium an, nicht, um wie alle anderen in dieser Gesellschaft stur die Karriereleiter hochzuklettern. Sam Lowry ist anders: Er erscheint uns als einzige Person in diesem Staat noch als Individuum, während alle anderen willenlose Sklaven im Dienste der Regierung sind. Der einzelne Mensch hat sich bedingungslos dem Kollektiv unterzuordnen, und wer dieser Maxime nicht treu bleibt, sieht sich den radikalen Methoden des Überwachungsstaates ausgesetzt. Nicht umsonst tauchen im Hintergrund häufig Plakate mit Aufschriften wie „Verdacht schafft Vertrauen“ und „Die Wahrheit macht dich frei“ auf. Erinnert alles sehr an den „Großen Bruder“ aus „1984“.
Da Lowry stets der einzige Bezugspunkt für uns Zuschauer ist, werden auch seine einzigen beiden Vertrauten zu wichtigen Personen: Da wären einmal ein schwarz arbeitender Monteur (Robert de Niro mal nicht in einer Hauptrolle, aber mit einer unheimlichen Präsenz in jeder seiner Szenen), bei dem Sam aber erst spät erkennt, dass er ein Freund ist, und natürlich seine Angebetete Jill (eine blasse Kim Greist; wie gerne hätte ich die auch von den Produzenten favorisierte Ellen Barkin in dieser Rolle gesehen), die jedoch über lange Zeit ein rätselhafter Charakter bleibt, ehe sie mit ihm zusammenarbeitet. Eine Familie hat Sam nicht, denn sein Vater ist offenbar tot (man erfährt nur, dass er einst ebenfalls in Regierungskreisen tätig war) und aufgrund seiner dominanten Mutter war es ihm nie möglich, eine ernsthafte Beziehung zu einer Frau zu beginnen. Gegen die Mutter und ihren Freundeskreis hagelt es von Gilliam immer wieder Giftpfeile, welche natürlich dem überzogenen Schönheitswahn der Schicki-Micki-Gesellschaft gelten sollen. Der Bekanntenkreis der Mutter besteht aus oberflächlichen Tratschtanten, die ihr Äußeres vom Reichtum ihrer karrieregeilen Männer gekauft haben. Absolut herrlich die Szene, in welcher Jack seinem alten Freund Sam seine Frau vorstellt und sie vollkommen aneinander vorbei reden, da blitzt tatsächlich kurzzeitig der geniale Monty-Python-Humor auf.
An manch anderen Stellen gibt es natürlich weit weniger zu lachen, obwohl sich Freunde des Grotesken immer wieder beömmeln dürfen. Vielleicht ist das auch der Sinn mancher Szene, die ich auch nach Zweitansicht schwer in einen Zusammenhang bringen kann (die Kamerafahrt bei der Verfolgung, bei der sich herausstellt, dass die wolkenbemalten Kraftwerkschlote zu einem Schaufenster gehören; das Aussehen Jills bei der Beerdigungsszene, die kurzzeitig die Gestalt von Sams Mutter annimmt Soll das auf einen Ödipuskomplex hindeuten?).
SPOILER!!!
Unbestrittenes Highlight ist aber die Schlussviertelstunde, während der man bei Erstansicht aufgrund der völlig irrationalen Handlung komplett im Regen steht. Erst in der letzten Einstellung erschließt sich, dass das unmittelbar zuvor Geschehene ein letzter Traum Sams gewesen ist, in der all das passiert, was er und der Zuschauer sich wünschen: Das Informationsministerium wird gesprengt, seine ekelhafte Mutter fließt bei ihrer Beerdigung als matschiger Brei aus dem Sarg, er entkommt dem Überwachungsstaat und hat mit Jill eine hoffnungsvolle Zukunft vor sich. Wie ein Schlag in die Magengrube ist dann das plötzlich Auftauchen von Jack und eines hohen Regierungstiers, die bemerken: „Er ist uns wohl entwischt.“ Sam sitzt also immer noch in der riesigen Kuppel und hat sich während der Folterung zum letzten Mal in eine Traumwelt geflüchtet, aus der er nicht mehr erwacht.
Obwohl Terry Gilliam immer wieder betont hat, er sieht das eigentlich als Happy End an, da die Folter zur Aufspürung von Regimegegnern in diesem Fall nicht fruchtet und Sam ihnen auf eine gewisse Weise „entkommen“ ist, stellen sich mir bei dem abrupten Zurückholen in die Realität jedes Mal aufs Neue die Nackenhaare auf.
SPOILER ENDE
Als Einstieg in die eigenwillige Welt des Terry Gilliam eignet sich der ebenfalls in der Zukunft spielende „Twelve Monkeys“ möglicherweise besser, denn „Brazil“ stellt vor allem bei Erstansicht eine unglaubliche Herausforderung für den Zuschauer dar, um nicht zu sagen: er ist so anstrengend, dass man ihn da unmöglich genießen kann, sich ziemlich wahrscheinlich über weite Strecken langweilt. Nicht einmal der Filmtitel ist in diesem Fall richtig erklärbar (auch der legendäre Song, der in allen möglichen Variationen erklingt, schafft keine Abhilfe), sondern hat eine ganz eigene Hintergrundgeschichte, zu der sich Gilliam in der Doku „What is Brazil“ ebenfalls äußert. In diesem Zusammenhag meint er zudem, in „Brazil“ gehe es „um jemanden, der allem entfliehen will, der meint, es gäbe eine Fluchtmöglichkeit.“
Wenn das nur so einfach wäre…