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Auf Grund des vergleichsweise hohen Bekanntheitsgrads, über den die wenigen aus italienischer Produktion stammenden "Kannibalismus" - Filme noch heute verfügen, hat sich der Eindruck einer kurzen, verdichteten Genre-Phase manifestiert, die als extremster Ausschlag einer Entwicklung gilt, mit der die finanziell angeschlagene italienische Filmindustrie, Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre, versuchte, der wachsenden Konkurrenz aus Hollywood mit einer zunehmenden Gewaltspirale und bewussten Provokationen Paroli zu bieten (siehe "Das italienische Kino frisst sich selbst"). Ruggero Deodatos "Cannibal Holocaust" (Nackt und zerfleischt) gebührt innerhalb des Genres der fragwürdige Ehrenplatz des gewalttätigsten und kontroversesten Films, dessen gesellschaftskritische Relevanz jeweils nach Standpunkt zwischen einem vorgeschobenen Deckmantel für den blutrünstigen Inhalt und einer intelligenten Abrechnung mit der modernen (Medien)Gesellschaft angesiedelt wird. Gemein ist den gegensätzlichen Haltungen in der Regel die Ablehnung der im Film detailliert gezeigten Tiertötungen, die ganz generell die Frage aufwerfen, ob die exzessive Gewalt für eine kritische Botschaft notwendig ist oder nur plakative Sensationsgelüste bedient?


I. Die 70er Jahre: Der Vietnam-Krieg und die neue Medienlandschaft

So wie Umberto Lenzis „Il paese del sesso selvaggio“ (Mondo Cannibale, 1972) nur dank des deutschen Verleihtitels den Status eines Kannibalenfilms erhielt – innerhalb der Abenteuerfilmhandlung vor exotischer Kulisse nimmt die Kannibalismus-Thematik nur einen kurzen Randaspekt ein - gibt es für „Cannibal Holocaust“ kein direktes Vorbild. Autor Gianfranco Clerici griff zwar auf Details des von ihm mit verfassten Drehbuchs zu Deodatos erstem Kannibalismus-Film „Ultimo mondo cannibale“ (Mondo Cannibale 2 – der Vogelmensch, 1977) zurück, ließ aber sowohl aktuelle Film-Strömungen, als auch die gesellschaftspolitische Entwicklung in Folge des Vietnamkrieges einfließen, der heute als erster „Medien-Krieg“ gilt. Regisseur Sidney Lumet hatte die Auswirkungen einer nur an Zuschauerzahlen orientierten, immer rücksichtloser vorgehenden Sensations-Berichterstattung im Fernsehen schon 1976 in „Network“ thematisiert, aber Clerici und Deodato gelang es, dessen satirischen, im Stil einer Dokumentation vorgetragenen Gestus so mit den Motiven des Abenteuer- und „Mondo“-Films zu kombinieren, dass ein vollständig neues Konzept daraus entstand.

Seitdem der Erfolg von „Blair Witch Projekt“ (1999) in regelmäßigen Abständen neue „Found Footage“-Filme in die Kinosäle spült, hat die Mär eines aufgefundenen, noch rohen Filmmaterials, das Auskunft über seinen Erzeuger und seine Begleiter geben kann, etwas an Faszination verloren, aber in „Cannibal Holocaust“ wurde dieses Stilmittel nicht nur erstmals in einem Langfilm eingesetzt, sondern so geschickt inszeniert, dass es dem Film ab der Laufzeitmitte eine vollständige Wendung gibt. Bis zu diesem Zeitpunkt blieb die Handlung bewusst konventionell – vier Menschen, die im Dschungel einen Dokumentarfilm drehen wollten, kehren nicht mehr zurück, weshalb sich der Anthropologe Professor Monroe (Robert Kerman) auf den Weg in die noch unerforschten Gefilde macht, um deren Schicksal in Erfahrung zu bringen. Sowohl „La montagna del dio cannibale“ (Die weiße Göttin der Kannibalen, 1978), als auch „Mangiati vivi!“ (Lebendig gefressen, 1980), der ebenfalls mit Robert Kerman in der Hauptrolle nur wenige Wochen nach „Cannibal Holocaust“ in die italienischen Kinos kam, wählten eine vergleichbare Ausgangssituation.

Das galt auch für den anfänglichen Charakter des Films, der aus dem zivilisatorischen Blickwinkel erzählt wird und damit den Betrachter in Sicherheit wiegt. Professor Monroe bekommt einen erfahrenen Dschungel-Führer an die Seite gestellt, der weiß, wie er mit den wilden Tieren und den Eingeborenen umzugehen hat – das klassische Klischee des harten Kerls, der den Professor zwingt, nicht einzugreifen, als ein Stammesmitglied seine Frau erst vergewaltigt und dann brutal erschlägt. Dem Anthropologen Monroe wiederum gelingt es, nachdem sie das Dorf der Kannibalen erreicht hatten, deren Vertrauen zu gewinnen. Er entkleidet sich und lässt sich auf ihre Lebensweise ein, darunter auch der Verzehr von Menschenfleisch. Eine Szene, in der die Frauen seinen Körper untersuchen und an seinem Penis ziehen, zitiert unmittelbar Deodatos ersten Kannibalismus-Film „Ultimo mondo cannibale“, dessen Anlage wesentlich komplexer wirkte in dem Versuch, tiefer in das archaische Verhalten der Eingeborenen einzudringen.

Dagegen erscheint „Cannibal Holocaust“ zu Beginn als typischer Abenteuerfilm in der Tradition von „Il paese del sesso selvaggio“, in dem die Eingeborenen nicht über die Rolle des exotischen Grusel-Beiwerks aus Sicht des westlichen Kulturkreises hinauskamen. Eine Sichtweise, die sowohl Sergio Martinos „La montagna del dio cannibale“, als auch Joe D’Amatos „Emanuelle e gli ultimi cannibali“ (Nackt unter Kannibalen, 1977) eigen ist – den beiden einzigen Kannibalen-Filmen, die zwischen Deodatos zwei Genre-Werken herauskamen. Von einer verdichteten Genre-Phase kann angesichts der gleichzeitigen Massenproduktion der italienischen Filmindustrie keine Rede sein, ganz abgesehen davon, dass drei Jahre Abstand zwischen zwei thematisch verwandten Filmen damals einer Ewigkeit gleich kamen. Umberto Lenzi drehte allein zwischen 1975 und 1978 sieben Polizieschi und legte 1980 und 1981 noch zwei Kannibalen-Filme nach. Daran wird viel mehr deutlich, dass Deodato und Autor Clerici mit ihrem zweiten Film auf die generelle Medien-Entwicklung der letzten Jahre reagierten, möglicherweise erst dadurch motiviert wurden, sich ein zweites Mal dem Genre zu widmen.


II. Der Perspektivwechsel

Die Intelligenz der Inszenierung zeigt sich nicht allein im damals neuartigen Stilmittel „Found Footage“ – Professor Monroe erhält im Tauschgeschäft die Filmaufnahmen der vier getöteten Dokumentarfilmer – das die zweite Hälfte des Films prägt, sondern mehr noch in einem fast unmerklich vorgenommenen Perspektivwechsel. Vordergründig ändert sich nur wenig. Wurde die erste Handlungshälfte aus dem Blickwinkel des Professors betrachtet, nimmt die Kamera nun die Sicht der vier Dokumentarfilmer ein. Es bleibt bei einer von außen kommenden Perspektive auf den Eingeborenen-Stamm, nur wird die Distanz zwischen Betrachter und Story langsam zerstört, indem der Zuschauer an die Seite des Professors gestellt wird, der die Aufnahmen für die Veröffentlichung in einer TV-Sendung prüfen soll. Damit wird dem Betrachter eine doppelte Perspektive aufgezwungen – die des Voyeurs, der den Unterhaltungswert einschätzen soll, und die des Kamerateams, dessen wahre Beweggründe sich zunehmend offenbaren.

Deren menschenverachtendes, rücksichtloses Vorgehen, nur um einen möglichst sensationellen Bericht verkaufen zu können, entsprach der schon in „Network“ formulierten Kritik. Die angebliche zivilisatorische Überlegenheit gegenüber dem Naturvolk hatte Deodato selbst zuvor in seinem „Ultimo mondo cannibale“ als fragile Hülle demaskiert. In „Cannibal Holocaust“ ging er darüber hinaus. Er zielte auf den Konsumenten ab, auf dessen Erwartungshaltung und Urteil. Sowohl die Bilder des Vietnamkrieges, die TV-Jagd nach Sensationen oder die „Mondo“-Filme und ihre Ableger dienten trotz des darin verbreiteten „realen“ Schreckens vor allem der Unterhaltung, beließen den Betrachter immer auf der heimischen Couch oder dem bequemen Kinosessel, von wo aus es sich aus sicherer Distanz gruseln ließ. Am Ende des Films existiert diese Distanz nicht mehr, verliert die Gewalt-Orgie jeden Unterhaltungs-Charakter, da eine Parallelität zwischen Sensations-Geilheit und Betroffenheit entsteht – der Zuschauer wird gleichzeitig zum Opfer und Täter.


III. Die Notwendigkeit von Gewaltdarstellungen

Diese Intention des Films lässt sich an vielen Details ablesen, besonders hervorstechend an Riz Ortolanis‘ Filmmusik, die nicht zufällig eine direkte Verbindung zu „Mondo cane“ (1962) herstellte. Die Schönheit seiner Empathie erzeugenden Musik steht im starken Kontrast zu den Ereignissen auf der Kinoleinwand – mit diesem Effekt arbeiteten schon die Macher von „Mondo cane“ - und steigert damit die Fallhöhe zwischen moralischem Anspruch und der Realität menschlicher Abgründe. Während dieses Stilmittel als unstrittig gilt, werden die detailliert gezeigten, realen Tiertötungen fast ausschließlich abgelehnt, obwohl deren Art der Inszenierung ebenfalls als Reaktion auf die „Mondo“-Filme und ihre Nachfolger zu verstehen ist. Weder zeigt „Cannibal Holocaust“ Aufnahmen einer brutalen Tierwelt - gemäß dem beliebten Motto „Fressen und gefressen werden“ - noch Opfer-Rituale oder bewusst von Menschen angestrengte Tierkämpfe, wie sie in „Mondo Cane“ oder Lenzis „Il paese del sesso selvaggio“ selbstverständlich vorkamen. Einzig zur Nahrungsaufnahme werden die Tiere durch Menschen getötet – eine millionenfache tägliche Selbstverständlichkeit.

Das allein hätte die schrecklichen Bilder nicht gerechtfertigt, aber erst die Kombination aus Realität und den gestellten Aufnahmen exzessiver Gewalt, besonders gegenüber Frauen, führt zu dem notwendigen Distanzverlust des Betrachters, um ein entspanntes Sehvergnügen zu verhindern. Sicherlich lässt sich je nach persönlicher Sensibilität über einzelne Szenen diskutieren, aber für die Intention des Films sind die Gewaltdarstellungen zwingend notwendig, wie sie – nicht weniger umstritten - auch Pier Paolo Pasolini in „Salò o le 120 giornate di Sodoma (Die 120 Tage von Sodom, 1975) vorsah. Es wird immer Betrachter geben, die sich an den extremen Gewaltaufnahmen delektieren und den Film nicht an sich heranlassen, so wie die Intention intellektuell auch ohne die konkreten Bilder zu verstehen ist. Aber sowohl Pasolini, als auch Deodato genügte keine theoretische Abhandlung, kein bequemes selbstkritisches Geplänkel, sie wollten die menschlichen Abgründe körperlich erfahrbar werden lassen, wie ein Schlag in die Magengrube. Wer einmal „Cannibal Holocaust“ gesehen hat, vergisst ihn nicht mehr – allein die Erinnerung daran, treibt die Tränen in die Augen.(10/10)

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